Quelle: Erinnerungen von Herbert May an 1939-1945, 3 DIN A 4-Seiten maschinengeschrieben, vom 13. August 2008

"Wilhelm, Wilhelm, wir haben Krieg!"

Erinnerungen von Herbert May

Im Jahr 1931 wurde ich in Eiringhausen in der „Tüte“ geboren. Dort wohnte ich mit meinen Eltern, einer Schwester und drei Brüdern. Meine Kindheit verbrachte ich im Schutze einer christlichen Familie. 1937 wurde ich in der „Jüttenschule“ Katholische Volksschule eingeschult. Als Sohn christlicher Eltern war ich, weil die katholische Kirche unweit unserer Wohnung lag, auch ein fleißiger Kirchgänger. Als Meßdiener, und später auch als Klöckner, die Glocken wurden noch mit Seilen gezogen, versah ich dort meinen Dienst.

Ein neuer Abschnitt in meiner frühen Jugend begann begann an einem Tag im September 1939. Wir hatten Turnstunde auf dem Schulplatz der Jüttenschule. Plötzlich rief die Frau unseres Lehrers aus dem Fenster der Lehrerwohnung: „Wilhelm, Wilhelm, wir haben Krieg, Deutsche Soldaten sind in Polen einmarschiert“. Was war Krieg ? Wir haben als Kinder Krieg “gespielt“. Vom Weltkrieg hatten wir gehört. Was jetzt kam, wurde propagandistisch über den Volksempfänger verkündet: Deutschland siegt an allen Fronten: Sieg über Polen, Frankreich besetzt, deutsche Soldaten in Nordafrika und in Rußland.

Mittlerweile war ich auch zwangsläufig Mitglied der Hitlerjugend. In Aufmärschen und Propagandaveranstaltungen wurde die siegreiche Nation gefeiert. Die Katholische Schule wurde in eine Gemeinschaftschule „umgewandelt“. Die Lehrer gaben politischen Unterricht, unsere kindliche Jugend wurde ernster.


Herbert "Tüte" May

Ein paar Jahre der Euphorie vergingen schnell. Deutsche Städte wurden bombardiert, der Krieg kam in die Heimat. Als Hitlerjungen mußten wir zur „Vormilitärischen Ausbildung“ in Wochenendlehrgängen. Die Ausbildung an Schußwaffen und Handgranaten wurde Ernst, Spielen gabs nicht mehr. Inzwischen waren auch meine 3 Brüder zum Wehrdienst gezogen. (die zwei ältesten sind 1943 und 1944 gefallen) Sirenengeheul war an der Tagesordnung. Nachts mußte ich mit meinem Vater und meiner Schwester (meine Mutter war 1940 verstorben) in den Luftschutzkeller. Tagsüber ging ich in den kleinen Wald unterhalb der Hallenbergstraße unweit der Villa Eweler. Ich traf mich dort mit meinem Freund. Wir hatten uns ein kleines Erdloch gegraben.

Auch wir Jugendliche merkten bald, daß der Krieg eine Wende genommen hatte. Alliierte Truppen hatten schon einen Teil Deutschlands besetzt. Die Luftangriffe alliierter Bombenflieger und Jagdbomber nahmen zu. Auch während der Schulstunden gab es häufiger Fliegeralarm und wir mußten in den Luftschutzkeller.
War es für uns Eiringhauser bislang noch immer schadlos ausgegangen, wurden wir auch bald eines besseren belehrt. Tieffliegerangriffe entlang der Bahnlinie auf Züge und Transportkolonnen. Immer häufiger heulten die Sirenen am Tage. Der Krieg kam näher.

Anfang 1945 war die Provinzialstraße (heute die B 236) mit deutschen Truppen auf dem Rückzug oder Vormarsch, sie wußten es selber nicht. Im Ruhrgebiet zog sich der „Ruhrkessel“ zu. Zu den Tieffliegerangriffen fielen auch die ersten Bomben .Die ersten Toten waren zu beklagen. Die Angriffe am Tage haben mein Freund und ich immer aus unserm Erdloch beobachtet. Die Jagdbomber kamen so tief, daß wir den Piloten in der Kanzel sehen konnten. Von hier konnten wir auch den Absturz eines amerikanischen 4mot-Bombers beobachten, der aus Richtung Affeln flog, über Böddinghausen schon Bäume streifte und in der Kersmecke in die Tannen stürzte.


Den Absturz dieser viermotorigen "Boeing Flying Fortress II", eine amerikanische "Fliegende Festung", in der Kersmecke beobachteten Herbert May und sein Freund am 5. Oktober 1944 um 12.15 Uhr. Laut Tagesmeldung der Luftschutzzentrale sollen bei Neuenrade 8 Notabspringer aus der Maschine festgenommen worden sein. Augenzeugen aus Plettenberg berichteten von zwei Besatzungsmitgliedern, die kurz vor dem Aufprall der Maschine per Fallschirm abgesprungen sein sollen und vom Wind in Richtung Soen getrieben wurden. Laut "missing in action"-Report der Amerikaner waren 9 Besatzungsmitglieder an Bord. Sie gehörten zur 8. Airforce, Geschwader 94.

Die Situation verschärfte sich. Immer häufiger wechselten Tiefflieger und Bomber und beharkten die auf dem Rückzug befindlichen deutschen Truppen. Immer häufiger wurden die Schulausfälle. Manche Eltern schickten ihre Kinder schon gar nicht mehr. So wurde im März der Schulunterricht freiwillig. Besonders gefährlich wurde es auch für uns in der „Tüte“ direkt am „Eiringhauser Verkehrsknotenpunkt“ gelegen. Ein Bekannter meines Vaters an der Affelner Straße hatte meinem Vater 2 Zimmer in der Kellerwohnung angeboten, wo wir, mein Vater, meine Schwester und ich, vorübergehend wohnen konnten. So warteten wir der Dinge die da kommen werden.

Die Luftangriffe nahmen zu und wurden immer gezielter. Bombardierung der Bahnlinie, des Bahnhofs, der Provinzialstraße. Die ersten Wohnhäuser wurden zerstört. Ein im Bahnhof stehender Personenzug mit Flüchtlingen wurde in der Nacht angegriffen und bombardiert. Es gab viele Tote und Verwundete. Die Toten hatte man im Luftschutzkeller unter der Katholischen Kirche aufgebahrt.

Am folgenden Morgen während der Messe, ich hatte Dienst als Meßdiener, gab es Fliegeralarm, die Messe wurde abgebrochen und die Besucher der Messe wollten in den Keller. Ein Aufschrei des Entsetzens als man dort die Toten liegen sah. An diesem Nachmittag ließ auch eine Mutter ihr Kind taufen. Bei dieser Tauffeier war ich Meßdiener und Taufpate zugleich.


Das Haus Provinzialstraße 58, besser bekannt unter dem Namen "Tüte". Hier wurde Herbert May 1931 geboren.

Anfang April 1945. Die Lage wurde immer bedrohlicher. Täglich Luftangriffe auf die Bahnlinie und die Fahrzeugkolonnen auf der Straße. Schon konnte man den Geschützlärm in der Ferne hören. In der „Tüte“ waren alle Familien ausgezogen und bei Bekannten untergekommen. Schulunterricht gab es nicht mehr. Die Schulentlassungszeugnisse mußten wir bei unserem Lehrer in Böddinghausen abholen. Er verabschiedete jeden seiner Schüler und wünschte alles Gute für den weiteren Lebensweg.


In der Jüttenschule wurden die Turnstunden auf dem Schulhof abgehalten.

Das Abholen meines Zeugnisses nahm, obwohl ich mich schon sehr früh auf den Weg gemacht hatte, bis zum späten Nachmittag. Drei Tieffliegerangriffe waren an diesem Tag. Da die „Tüte“ unbewohnt war, ging ich jeden Morgen in unsere Wohnung um noch wichtige Sachen zu holen und nach dem Rechten zu sehen. So auch am 13. April. Nachdem ich mit Pastor Busch und einigen Kirchgängern die Hl.Messe gefeiert hatte, ging ich noch einmal in unsere Wohnung. Aus dem Küchenfenster konnte ich sehen, wie noch einige deutsche Soldaten sich in der Nähe der Katholischen Kirche sammelten. Es war Mittag als ich das Haus verlassen wollte, sah ich das sich ein einzelner Soldat hinter der Kastanie am Kanal mit reichlich Munition verschanzte. Sein Motorrad, eine 350er DKW stand hinter der Treppe zum Eingang Bergmann. Als er mich sah, schrie er mich an ich sollte sofort in den Keller gehen, amerikanische Truppen wären am Ortseingang. Ich gab zu verstehen, das ich die Straße überqueren müßte. In diesem Moment schlichen sich die ersten Amerikaner in die Reichstraße. Im gleichen Moment eröffnete der Soldat hinter der Kastanie das Feuer. Im Dauerfeuer schoß er seine Magazine leer. Einen Moment war Totenstille. Er gab mir ein Zeichen daß ich so schnell wie möglich die Straße überqueren sollte. Dann setzte er sich auf sein Motorrad und raste davon. Später hörte ich das dieses Feuergefecht viele Verwundete bei den Amerikanern gegeben hatte Nach einer längeren Pause wurden Panzer angefordert. Auf dem Weg zu unserer Ersatzwohnung hörte ich die ersten Schüsse. Eine Panzergranate schlug in die „Tüte“ ein. Nachdem die Staubwolke weg war sah ich ,daß der Einschlag nicht in unserer Wohnung sondern eine Etage tiefer lag.

Die Neugierde zog mich über den Katholischen Friedhof von wo ich in das Lennetal bis Leinschede sehen konnte. Die gesammte Straße war voll mit Panzern und Fahrzeugkolonnen der Amerikaner.. Als ich wieder zurück wollte staunte ich nicht schlecht. Amerikanische Truppen waren von der Blemke hoch und lagen bereits indem Tannenwäldchen des Friedhofs. Man nahm mich fest. Nach einer längeren Beratung der Amerikaner wollte man von mir wissen wo ich herkam und was ich hier wolle. Da das Haus meiner Familie in Sichtweite lag, wurde ich von einer kleinen Patrouille meinem Vater übergeben. Anschließend kontrollierten sie das Haus und fragten nach deutschen Soldaten. Danach kontrollierten sie die anderen 4 Häuser. Am anderen Morgen ging ich sofort in unsere Wohnung um nach Schäden zu sehen. Die Haustür stand offen, mit einigen Schüssen hatte man das Schloß zerschossen, alle Wohnungen waren aufgebrochen und durchsucht worden Schränke standen auf aber es war nichts gestohlen.Inzwischen war auch mein Vater gekommen und wir haben ,nachdem sich auch weitere Hausbewohner einfanden , die Schäden so weit wie möglich behoben. Als wir dann wieder an unserer Ersatzwohnung angekommen waren mußten wir feststellen das die ersten 4 Häuser von den Amerikanern beschlagnahmt waren und alle Bewohner in dem 5. dem letzten Haus (vor der Friedhofskurve) untergebracht waren. Allerdings nur für eine Nacht. Die Evakuierung war nötig geworden ,weil aus der Friedhofskurve schwere Geschütze die Stadt Werdohl beschossen und die dazu gehörige Besatzung in den Häusern wohnte.

Am Nachmittag war ich noch mal „im Dorf“. Auf dem Hof der Villa Eweler hatte man einen Lebensmittelwagen der Deutschen Wehrmacht ausgemacht, der aber schnell geleert war. In dem Wohnhaus der Firma Fastenrath und Siepmann hatte sich ein Truppenarzt der Nachschubeinheit einquartiert. Er sprach gut Deutsch und ich war ihm aufgefallen, da ich mehrmals am Tage an diesem Haus vorbeikam. Am Tag darauf sprach er mich an und fragte nach deutschen Briefmarkenalben. Als Junge hatte ich nur Sondermarken „zum Tag der Deutschen Wehrmacht“ und zum „Geburtstag des Führers“ gesammelt. Als ich ihm von dieser Sammlung erzählte, bekam er Glanz auf den Augen und wollte sie sehen. Er nahm mich mit ins Haus und fragte, ob ich ihm die verkaufen wolle. Dann holte er einen großen Karton packte einige Stangen Chesterfield, mehrere 500 gr. Dosen Nescafe., kartonweise Schokolade und Kaugummi hinein - als Preis für die Briefmarken. Jetzt bekam ich Glanz in den Augen und willigte ein. Wir haben Freundschaft geschlossen und jedesmal wenn ich wieder vorbeikam habe ich eine Kleinigkeit bekommen, leider nur eine Woche lang.

Die folgenden Wochen streiften wir die Wälder ab auf der Suche nach Überbleibsel der Wehrmacht. Nach vielem brauchbaren wie Funkgeräte ,Generatoren usw. interessierte uns dann auch die Munition. Eine Kiste mit Stielhandgranaten und eine Kiste mit 3 Panzerfäusten musten unter größten Sicherheitsmaßnahmen vor den Amerikanern in ein Versteck gebracht werden. Mit den Handgranaten wurden in der Lenne Forellen „gefangen“. Hier muß ich einfügen, daß uns die damalige „ Vormilitärische Ausbildung „ hier vielleicht das Leben gerettet hat.

Ein Kuriosum muß ich noch berichten. Um 19 Uhr war Sperrstunde. Wenn die Sirenen heulten, mußten alle in ihren Häusern sein. Eines Tages hatte ich einen ausgiebigen „Kontrollgang“ durch die Affelner Berge unternommen. In Höhe der Affelner Höhe hörte ich die Sirenen. Über den Fuhrweg, den „Alten Graben“ runter; Affelnerstraße bis nach Bergmanns an die Ecke, hinterm Kastanienbaum und dann die „Tüte“ angesteuert, geschafft.

Scheiße wars. Mein Haustürschlüssel hatte sich in dem zerschossenen Türschild verhakt und ich bekam ihn nicht los. Just in dem Moment kommt ein Jeep der Militär-Polizei die Bachstraße hochgefahren , sieht mich, und schon sitze ich im Jeep.
Auf der Weide hatten die Amerikaner ihre Stadtkommandantur. In einem Zimmer saß die Plettenbergerin Frl. Wilmes als Dolmetscherin. Dort lieferte man mich ab. Nach einem längeren Gespräch mit den Militärpolizisten fragte sie mich nach meinem Namen. Ich bekannte mich. Dann fragte sie: „Bist du ein Sohn von Martin May?“ Ich sagte ja. Nach einem kurzen Gespräch mit den Polizisten saß ich wieder im Jeep Richtung „Tüte“. Mein Vater öffnete die Tür, gab mir eine schallende Ohrfeige. Die Amis lachten und sagten „Good Night“!


zurück      nächste Seite

Lexikon für die Stadt Plettenberg, erstellt durch Horst Hassel,
58849 Herscheid, Tel.: 02357/903090, E-Mail:webmaster@plbg.de