Quelle: WR Plettenberg vom 06.05.2005
1944/45 aus Sicht eines 14-Jährigen
Erinnerungen von Dietrich-Wilhelm Voß
Plettenberg. Morgen jährt sich zum 60. Mal der Tag, an dem mit der Kapitulation der Wehrmacht das Ende Nazi-Deutschlands besiegelt wurde. Der pensionierte Maler-Meister Dietrich-Wilhelm Voß (75) hat für die WR seine Erinnerunge an die letzten Tage des Krieges aufgeschrieben, der (wie berichtet) für die Menschen in Plettenberg bereits Mitte April mit dem Einmarsch der Amerikaner endete.
Morgens um 8 Uhr Antreten auf dem Schulhof. In Reih und Glied marschierten wir in die Schule. Jeden Morgen musste sich ein Schüler ans Pult stellen und mit erhobener Hand den Wochenspruch sagen: Die Ruhe ist dem Menschen heilig, nur die Verrückten haben es eilig (Großes Donnerwetter!). Schulspeisung gab es in der großen Pause um 10 Uhr. Es gab eine Vitamintablette und irgend ein Pulver mit Wasser angerührt, dazu einen Teller Suppe, heute heiße Tasse genannt. In der Pause betreute ich mit Walter Holzapfel das Lehrmittelzimmer. Bei Fliegeralarm mussten wir in den Modellbauraum im Keller.
Mit zwei anderen Schülern war ich als Feuerwache eingeteilt. Wir sollten, wenn Stabbrandbomben abgeworfen wurden, diese mit Sand löschen. Der Sand stand in großen Eimern auf dem Speicher der Martin-Luther-Schule.
Im Modellbauraum bauten wir unter Anleitung von Lehrer Alfred Schmidt Modellflugzeuge. Die Modelle waren mehr Gleiter als Flugzeuge, sie waren zu schwer. Den ersten Flug überstand mein Flugzeug nicht, es zerschellte an einer dicken Eiche in den Elsewiesen. Eine Eiche steht heute noch auf dem Gelände der Firma Junior an der Ziegelstraße.
Hinter vorgehaltener Hand nannten wir den Erdkundelehrer Gustav Gieselmann "Pazemann" und Rektor Bröcker "Whisky". Nachts warfen Bomberverbände Flugblätter ab, am nächsten Tag mussten wir die Blätter aufsammeln. Im Sommer mussten wir auf den Kartoffelfeldern auf dem Sonneborn Kartoffelkäfer suchen, angeblich hatten die Amerikaner welche abgeworfen, wir haben nie einen Käfer gefunden. Im Herbst durften wir zu zehn Mann, als Auszeichnung, bei Bauer Bauckhage auf dem Sonneborn bei der Kartoffelernte helfen. Als Lohn gab es reichlich zu essen, aber das Tollste war, dass wir im Heu in der Scheune schlafen durften.
Mittwochs und Samstags hatten wir nachmittags Dienst im Jungvolk. Wir machten Geländespiele und lernten mit Kompass marschieren. Auch lernten wir die damals üblichen Lieder: "Es zittern die morschen Knochen . . .", "Fern bei Sedan . . .", "Wir lagen vor Madagaskar . . ." usw.
Es gab noch die Lehrer Alfred Schmidt, Heinrich Geisweidt, Fritz Weber, Anton Becker, Emil Metz, die Lehrerinnen Hulda Plate, Edelgard Wendland, Fräulein Alberts und einige sehr junge Hilfslehrerinnen, die man zwischen den Mädchen aus dem 8. Schuljahr kaum unterscheiden konnte.
Am 20. Juli (?) waren wir Jungen aus der Nachbarschaft im Freibad. Über die Lautsprecheranlage kam eine Sondermeldung: Auf den Führer war ein Attentat verübt worden. Wir waren empört, aber doch erleichtert, dass er überlebt hatte.
Erst nach dem Krieg erfuhren wir dann, dass die NS-Propaganda nur Märchen über diesen Mann und seine Clique erzählt hatte.
Irgendwann explodierte eine Luftmine im Saley. Man nahm an, dass es wohl ein Notabwurf gewesen sei. Viele Schaufensterscheiben in der Stadt waren durch den Luftdruck zerstört. In der Kersmecke, oberhalb der jetzigen Breslauer Straße, war ein alliiertes Flugzeug in einer Tannenschonung zerschellt. Es war wegen Beschuss nicht mehr lenkbar gewesen.
Die Besatzung war über Neuenrade mit dem Fallschirm abgesprungen und kam in Gefangenschaft. Das Flugzeug war dann führerlos bis in die Kersmecke weiter geflogen.
Flugzeug ging führerlos in der Kersmecke nieder
Mein Vater war dienstverpflichtet bei der Feuerwehr und arbeitete in der Kreisschlauchpflegerei. Weil wir ein Telefon hatten, erfuhren wir sehr schnell von den Ereignissen. Wir Jungen aus der Nachbarschaft haben uns am Tag darauf die kaputten Flugzeuge angesehen.
Ein Schock dann im Herbst:
Wenn klares Wetter war, sahen wir immer wieder Kondensstreifen am Himmel, die nach Westen zeigten. Die Älteren erzählten, dass sei die Wunderwaffe, mit der der Krieg gewonnen würde. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass das wohl die VII gewesen ist. Ab Januar 1945 gab es schon morgens Fliegeralarm, der Schulunterricht fiel aus.
Weihnachten 1944 gab es zu Mittag ein gebratenes Kaninchen, etwas Besonderes in der Zeit. Meine Aufgabe war es gewesen, den "Belgischen Riesen", wir nannten ihn Hansi, monatelang zu versorgen und zu füttern. Es hatte sich gelohnt.
Im März 1945 wurde eine Panzersperre am Oesterhammer gebaut. In der Wanderhütte auf dem Heiligen Stuhl oberhalb des Bärenberges hatte die Wehrmacht eine Funkstation eingerichtet. Wir Jungen haben die Soldaten besucht. Auf dem Rückweg erkundeten wir einen alten Bergwerksstollen, das Grundwasser war knietief und wir hatten nasse Socken. Mein Patenonkel Emil Stock wurde zum Volkssturm eingezogen. Der Volkssturm hatte zwar Gewehre, aber kaum Munition, erzählte mein Onkel später. Die Uniform war Zivilkleidung mit einer Armbinde, auf der ein Hakenkreuz war. Als letztes Aufgebot wurde das Freicorps Sauerland aufgestellt. Die Plettenberger Kompanie kam an der Nordostfront des Ruhrkessels zum Einsatz. Fast 90 Prozent der Plettenberger sind bei den Kämpfen gefallen. Plettenberg glich in den letzten Kriegswochen einem Heerlager. Viele Truppen zogen durch Plettenberg und nahmen für ein oder zwei Nächte Quartier.
Fast täglich griffen Jagdbomber an und schossen auf alles, was sich bewegte. Besonders der Bahnhof in Eiringhausen war ihr Ziel. Mein Vater fuhr mit Zimmermeister Albert Kohlhage, der auch Kreisfeuerwehrführer war, zu einer Dienstbesprechung nach Brügge. Das Auto, ich glaube, es war ein Horch, für einen 14-Jährigen ein Traumauto, wurde bei einem Jagdbomberangriff auf den Bahnhof Brügge in Brand geschossen. Der Besitzer des Autos war Fabrikant Albert Hilberg, Ehrenmitglied der Feuerwehr.
Am 16. März wurde ich in der Christuskirche konfirmiert. Einige der Mitkonfirmanden hatten eine Hitlerjugend-Uniform an. Mein Vater war gegen eine Uniform. Mein Anzug war eine kurze blaue Hose, die Jacke war eine blaue Kostümjacke mit Nadelstreifen von meiner Schwester, und das Hemd ein Leinenhemd mit Chemisettchen, geliefert von August Schweizer seinem Vater. Meine Mutter hatte zwei Kuchen gebacken. Der Kranzkuchen bestand aus geriebenen, gekochten Kartoffeln und Grießmehl mit etwas Zucker.
Der Streuselkuchen war eine Klasse für sich: In dem Streusel war ein halbes Pfund gute Butter, ein Konfirmationsgeschenk von Emma Gleitze. Gleitzes hatten eine Kuh im Stall und machten die Butter selber. Das Mehl hatte ich Anfang März bei Fielhaber in Stockum geholt. In Plettenberg gab es trotz Lebensmittelmarken kein Mehl. Der Weg nach Stockum ging durch die Blemke, an der alten Hermannszeche vorbei und durch Allendorf. Hin und zurück eine kleine Tagestour. Montags brachte ich unseren Verwandten in Altena per Fahrrad von den tollen Kuchen, die Reichsbahn beförderte da schon keine Personen mehr. Meine Konfirmationsgeschenke: Vier Bücher (Mein Kampf, Sterben in Flandern, Von Oslo bis zum Polarkreis und Dem Tommy entwischt), jeweils mit Widmung. Die Bücher habe ich heute noch im Regal stehen.
Am 1. April begann ich eine Lehre als Maler und Lackierer. In den ersten Apriltagen malten wir auf die Dächer des Krankenhauses in der W.-Seissenschmidt-Straße, der Realschule in der Königstraße und der Schützenhalle im Wieden rote Kreuze. Schule und Schützenhalle waren Feldlazarette. Die Wände in einer Klasse der Schule wurden mit Ölfarbe gestrichen und als Operationssaal genutzt. Als wir auf dem Dach der Schützenhalle arbeiteten, kam aus Richtung Herscheid ein Jagdbomber der Amerikaner im Tiefflug über uns hinweg gedonnert und beschoss mit seinen Bordwaffen eine Wehrmachtskolonne auf dem Landemerter Weg.
Am 10. April gingen die Soldaten auf dem Hirtenböhl in Stellung. Am 11. April meldete sich ein Vetter meiner Mutter aus Augsburg bei uns, er blieb eine Nacht und musste dann mit seiner Pioniereinheit weiter nach Altena. Einige Tage später brachte uns jemand einen Zettel, der um einen Stein gewickelt war. Der Vetter teilte uns mit, dass er auf der Seissenschmidtschen Wiese, jetzt VW Schauerte, im Gefangenenlager wäre.
Vom 11. bis 13. April 1945 beschoss die amerikanische Artillerie Plettenberg. Das Haus neben uns, jetzt Grafweg 14, erhielt einen Volltreffer. Ida und Emil Hücking wurden schwer verletzt und starben. Eine 8,8 cm Flakbatterie ging in der Nachbarschaft in Stellung. Ein Geschütz stand gegenüber der heutigen Oberen Apotheke. Durch Vermittlung von Chefarzt Dr. Pleuger haben die Geschütze wegen des Krankenhauses keinen Schuss abgegeben.
In der Gebäudelücke zwischen der Fabrik Rempel und Schuster Brücher hatte man eine Zugmaschine abgestellt. Am 13. April standen mein Vater und ich im Hauseingang, als ein Feldwebel mit einer Panzerfaust vorbei kam und sagte, er wollte die Zugmaschine, bevor die Amerikaner kämen, sprengen. Hinter der Haustreppe von Herzhoffs Haus lag ein Soldat mit einem M.G. und sollte Feuerschutz geben. Der Feldwebel ließ die Zugmaschine bis auf die Mitte der Straße rollen und stand an der Mauer des Hauses Henke, jetzt Druckerei Overhoff. Aus Richtung Maiplatz kam ein Jeep mit vier Amerikanern. Die waren schneller, und mit einer Garbe aus der Maschinenpistole erschossen sie den Feldwebel.
Nach Abzug der Amerikaner kamen Engländer als Besatzung. Die Soldaten hatten bei Pickard eine Küche eingerichtet. Von den Engländern gab es für uns Kinder so manches Stück Weißbrot, welches doch viel besser schmeckte als das damals übliche Maisbrot. Auch ein Stück Schokolade gab es schonmal. Die Engländer wurden abgelöst von den belgischen Soldaten. Meine Mutter wusch und bügelte für die Soldaten die Uniformhemden.
Hemden bügeln für Zigaretten und Schokolade
An den letzten Kriegstagen vor dem 13. April überflog in den Abendstunden fast immer zur gleichen Zeit ein Jagdbomber Plettenberg in Richtung Herscheid. Mein Vater sagte dann immer "Das ist sicher Erich Sternberg, der kennt sich hier aus." Erich Sternberg war ein ehemaliger Plettenberger Bürger jüdischen Glaubens, dem es gelungen war, nach Amerika zu emigrieren.
In den 1970er Jahren traf ich bei Otto Niebling einen Mann, der mir als Herr Sternberg
aus Amerika vorgestellt wurde: Er war der Mann, den mein Vater gemeint hatte, stellten
wir fest. Beide hatten in den 1920er Jahren zusammen Sport betrieben. Sternberg war
aber nicht im 2. Weltkrieg Jagdbomberpilot gewesen, wie er schmunzelnd feststellte.
"An Ernst Voß erinnere ich mich, er war ein guter Torwart, bestellen Sie schöne Grüße",
sagte er.
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