Quelle: Westfälische Rundschau vom 09.06.2005
Amerikanische Freunde
Von Horst Hassel
April 1945: Amerikanische Truppen haben mit der Schließung des Ruhrkessels
nicht nur die militärische, sondern auch die politische Macht im heimischen
Raum übernommen. "Wir kommen als Sieger, aber nicht als Unterdrücker" hatte
der General Dwigth D. Eisenhower, Oberster Befehlshaber der Alliierten
Streikräfte im März verkündet. Doch die Bürger im völlig zerbombten
Ruhrgebiet hatten andere Sorgen: Was ist aus Vätern, Ehemännern, Eltern,
Kindern, Verwandten geworden? Wie komme ich an eine Wohnung? Wie kann die
Versorgung mit Lebensmitteln gesichert werden?
Am 5. Juni 1945 wird mit der Unterzeichnung der "Berliner Deklaration" durch
die Oberbefehlshaber der vier Siegermächte die Aufteilung Deutschlands in
die französische, britische, amerikanische und sowjetische Zone beschlossen.
Vereinbart worden waren die vier Zonen bereits auf der Konferenz von Jalta
im Februar 1945. Der heimische Raum zählte damit ab Juni 1945 zur britischen
Zone - die Amerikaner rückten ab, britische Besatzungstruppen, teilweise
auch belgische, übernahmen die Verwaltung. Die Britische Zone -
Autokennzeichen BR - reichte von der dänischen Grenze bis etwa zur
Landesgrenze von Hessen und Rheinland-Pfalz.
In den Rathäusern hatten im April 1945 zunächst amerikanische Truppen das
Sagen. Sie entfernten alles, was an sichtbaren Nazi-Symbolen vorhanden war,
verbrannten öffentlich Hakenkreuzfahnen, Hitlerbilder und "Mein Kampf"-Bücher.
Sie führten "Entnazifizierungsverfahren" durch und entfernten
"Parteimitglieder" aus den Amtsstuben. "Alle Beamte sind verpflichtet, bis
auf Weiteres auf ihren Posten zu verbleiben. Dies gilt auch für die Beamten,
Arbeiter und Angestellten sämtlicher öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen
Betriebe, sowie für sonstige Personen, die notwendige Tätigkeiten verrichten"
hieß es bereits in der "Proklamation Nr. 1" von General Eisenhower. Dadurch
war ein Minimum an Verwaltung, Sicherheit und Ordnung zunächst gesichert.
Manchem alten Kämpfer gelang es, durch einen "Persilschein" (positive
Beurteilung eines anerkannten Nazigegners) in sein altes Amt zurückzukehren.
Das Vermögen der NSDAP und ihrer Gliederungen wurde beschlagnahmt. Das traf
auch viele Vereine, die im Zuge der Gleichschaltung zwangsweise Mitglied
einer NS-Dachorganisation geworden waren. So mancher Schützenverein verlor
dadurch (zunächst) sein Vereinsvermögen und seine Schützenhalle.
Neben der Militärpolizei sorgten von der Besatzungsmacht berufene
Hilfspolizisten zunächst für Ruhe und Ordnung. Ausgesuchte
Ortsbürgermeister - vorzugsweise solche, die Mitglied einer von den Nazis
verbotenen Partei oder zumindest kein Parteimitglied gewesen waren,
fungierten als Ansprechpartner der Besatzungsmacht. Behördensprache im
heimischen Raum war Englisch. Anordnungen der Militärregierung wurden in
gedruckter Form (fast alle alten Tageszeitungen waren verboten worden)
zweisprachig ausgehängt bzw. vor den Druckereien zum Kauf angeboten.
Wie mit belasteten Verwaltungsmitarbeitern verfahren wurde, belegt das
Protokoll einer Sitzung im Juli 1945 unter Leitung des kommissarischen
Bürgermeisters von Plettenberg. Darin heißt es u. a.: "Zur Überprüfung der
Bediensteten der Stadtverwaltung in politischer Hinsicht gab der
Bürgermeister bekannt, daß auf mündliche Anordnung der amerikanischen
Militärregierung der Vollziehungsbeamte X, der Polizeisekretär Y und die
Angestellte Z zu entlassen seien." Der örtliche Leiter des Geheimdienstes
der Militärregierung habe erklärt, daß damit für die Militärregierung die
Maßnahmen vorläufig für Plettenberg abgeschlossen seien. Auf Anordnung des
Herrn Regierungspräsidenten wären dann die Beamten, die »alte Kämpfer«
oder »Pg« (Parteigenosse) vor der Machtübernahme waren, ohne Anspruch auf
Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung mit sofortiger Wirkung aus dem
öffentlichen Dienst zu entlassen gewesen." Weiter heißt es: "Auf die
Anfrage, ob und wer unter den hiesigen Behördenbediensteten als politisch
untragbar anzusehen sei, antwortete niemand."
Alle vorhandenen Pkw und Lkw mussten der Militärregierung gemeldet und
teilweise übereignet werden. Nur wer ein "Permit", eine Genehmigung der
Militärregierung erhielt, konnte sein Geschäft weiter betreiben. Hier waren
es insbesondere Lebensmittelhändler, die ihre Fahrzeuge - die wegen
Treibstoffmangel oft schon während des Krieges auf Holzvergaser umgebaut
worden waren - behalten durften und auch die Erlaubnis bekamen, zu
Versorgungsfahrten in Nachbarstädte oder sogar benachbarte Besatzungszonen
zu fahren. Produzierende Unternehmen wurden in vielen Fällen demontiert, d.
h., die Maschinen und Anlagen wurden abgebaut und z. B. nach Großbritannien
transportiert.
Wer im Sauerland ausgebombte Flüchtlinge aus dem Kohlenpott einquartiert
hatte, und das waren nicht wenige, spekulierte nicht zu Unrecht auf deren
Verbindungen zum Bergbau: "Deputatkohle" hieß das Zauberwort, das manchem
Haushalt im Umfeld des Ruhrgebietes den Winterbrand 1945/46 sicherte. Einem
Lottogewinn gleich war die Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit einem
Amerikaner. Das bedeutete amerikanische Zigaretten, Schokolade und die
Möglichkeit, etwas vom "american way of live" mitzuerleben.
Die Bevölkerung kehrte zum Tauschhandel zurück, unternahm Hamsterfahrten zu
Bauern in der Umgebung (wo so manches wertvolle Familien-Erbstück gegen
Butter oder Fleisch eingetauscht wurde) , vor den Gerichten wurde vermehrt
der Straftatbestand "Schwarzschlachten" abgeurteilt. Die neue Währung hieß
"Lucky Strike" - für amerikanische Zigaretten konnte man problemlos sogar
Bohnenkaffee (keinen "Muckefuck" aus Getreide) eintauschen. Für die
Flüchtlingsströme aus den Ostgebieten musste provisorischer Wohnraum
geschaffen werden. Dazu wurden die Flüchtlinge zunächst in jene Baracken
eingewiesen, die einst für die Unterbringung der Zwangsarbeiter errichtet
worden waren. Im Ruhrgebiet sorgten "Trümmerfrauen" jahrelang dafür, dass
der Mörtel der Ziegelsteine zerbombter Häuser abgeklopft und die Steine
damit zum Wiederaufbau verwendet werden konnten.
Und auf den Bahnhöfen
standen Ehefrauen und Mütter mit großen Suchbildern: "Wer weiß etwas über
meinen Mann, Obergefreiter Manfred X?" Die aus russischer
Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten in ihren Wattejacken
hatten nur selten einen Blick dafür. An den Krieg wollte niemand mehr
erinnert werden...
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