Teil III
P. C. C. Bröcker: Wir Kinder blieben
Herscheid-Elsen. In der dritten Folge der Bröckerschen Lebenserinnerungen endet
die Schulzeit und das Arbeitsleben des P. C. C. Bröcker beginnt. Obwohl Bröckers
Eltern nicht arm waren, sorgten sie nicht in dem ihnen möglichen Maße für
ihre Kinder, was Peter Caspar Carl Bröcker zu folgender Kritik veranlaßte:
"Nicht durch Krankheit oder Unfall bin ich in solche Verhältnisse geraten, sondern
ich wurde ausgebeutet von meinen nächsten Angehörigen, die moralisch verpflichtet
waren, für meine Zukunft zu sorgen. Wir Kinder wurden frühzeitig uns selbst
überlassen!"
Die letzte Folge berichtete vom Umzug der Familie Bröcker von Köbbinghausen nach Elsen. Nun endet seine Schulzeit in der zweiklasigen Elsener Schule und das Arbeitsleben beginnt:
Noch vor 15 Jahren, als ich in Deutschland war, um meinen Besitz zu verkaufen, kam ein 12jähriger Junge zu mir und bat mich, ihm von seiner Wolle Handschuhe mit Fingern zu stricken. Ich staunte und sagte: "Fritzchen, wie kommst Du gerade auf mich?"
Ja, sagte er, er habe die alte Frau Bölling darum gebeten. Die habe ihm gesagt, das könne keiner so gut wie Opa Bröcker! Ich sagte: Und Deine Mutter? Die könne es nicht! Und Deine Tante Maria? Die könne es auch nicht! ,,Dann will ich es machen!'' Als die Handschuhe fertig waren, haben sie gestaunt, so fein und so passend waren sie; so als wenn sie schon lange getragen worden wären.
Den Winter über nähte ich Hemden usw. auf der Nähmaschine, die meine Mutter geschnitten hatte.
Im Garten hatte ich eine Blumen- und Baumschulecke und veredelte die Obstbäume. Auch als ich später auf der Fabrik war und wenn ich Nachtschicht hatte, habe ich viele Obstwildlinge veredelt. Und ca. 10 Jahre später, als ich wieder als Wirtschaftsverwalter da war, erzählten die Bauern meinem alten Wirt, daß man überall edle Äpfel in den Wäldern anträfe. Ich erklärte ihnen, wie das wohl so gekommen sei.
Ich grub auch einen 5 Meter tiefen Brunnen für besseres Wasser; allerdings mit einem Gehilfen, der die Erde hochzog. Auch ein 1/3 Hektar großes Oedland (Sträucher und Holz) pflanzte ich mit Tannen an, hatte aber Schwierigkeiten mit dem angrenzenden Nachbarn. Nur über dessen Hof konnte man zu dem Oedland kommen - und der Nachbar verbot das Gehen über sein Grundstück, als er merkte, daß ich da Tannen pflanzen wollte.
Einmal war er mit seiner Frau im Vorgarten. Er sagte, ich solle umkehren, sonst zöge er mir mal die Hosen stramm. ,,Und dann schlage ich Dir dieses Beil an den Kopf'', sagte ich und ging ruhig weiter.
Als ich und mein älterer Bruder auf dem Wagen das Holz holen wollten, kam plötzlich die Frau aus der Haustür und hing sich an den Pferdekopf. Ich riß meinem Bruder die Peitsche aus der Hand und schlug vom Wagen aus so feste das Pferd unter den Bauch, daß es hochging und die Frau sich knapp retten konnte. Und ich sagte: "Schade, daß Du nicht kaputt bist."
Diese Frau hatte mich als 9jährigen schwer verärgert. Ich war sonntags früh an ihrem Haus vorbei einen Kilometer weit in den Waldgrund gegangen und hatte mehr als ein Kilogramm Walderdbeeren gesucht. Ich ging an ihrem Küchenfenster, das offen stand, vorbei. Wohl absichtlich begrüßte sie mich: "Was hast Du da?"
Ich zeigte ihr meine Erdbeeren, und schon hatte sie den Behälter in der Küche und die Mädchen, noch nicht schulpflichtig, hatten jedes einen Teller und baten um Erdbeeren. Sie gab immer mehr - und ich bekam schließlich die leere Schale zurück.
Zu Hause angekommen, fragte die Mutter, wo ich den ganzen Morgen gewesen sei. Ich erklärte ihr, wie es mir ergangen war. Sie griff die Birkenrute mit dem Knoten und haute mit mehrere Male feste über den Kopf und sagte: "Für deine Dummheit!"
Nach einiger Zeit bat ich um ein Stück trocken Brot, bekam aber nichts und mußte bis Mittag schwer Hunger leiden. Diese Leute zogen mir mehrere Male gepflanzte Tannen aus. Ich pflanzte sie immer wieder nach. Es gab einen wertvollen Tannenbestand, der beim ersten Abholzen 1.700 Mark einbrachte.
Da ich den Einkauf für unseren Haushalt immer machte, kaufte ich für mein am Stricken verdientes Geld Taschenmesser und Portemonaies, aber der Verkäufer mußte sie mir billiger tun als anderen, und ich verkaufte weiter und verdiente dabei gut. Für junge Hähne bekam ich in der Stadt (8 km) immer höhere Preise als die andern Bauern in unserm Ort.
Vom 14. bis 20. Lebensjahr
Mit 14 Jahren wurde ich konfirmiert - statt zu Ostern, schon im Januar, weil der Pastor eine andere Pfarrstelle angenommen hatte und noch das Konfirmationsgeld 3-5-10 Mark mithaben wollte. Das erste Abendmahl gab er nicht.
Er war wortreich und sagte häufig in seinen Predigten: "Wer seine Kinder lieb hat, der schonet die Rute nicht!". Zwei Jahre später schoß er sich eine Kugel durch den Kopf, weil sein Schwiegervater ihn angetroffen hatte, als er mit dessen Dienstmädchen im Bett lag. Er hatte Frau und zwei Kinder. Warum er das getan hat? Dies war mir rätselhaft! Auf meinem Konfirmationsschein steht: Wir sind Christi teilhaftig geworden, so wir anders das angefangene Leben bis ans Ende beibehalten! "Gott Pfarrer". Bin aber auch seitdem immer gern in die Kirche gegangen.
Mit 14 Jahren mußte ich, wie meine älteren Geschwister auch, nach der Fabrik; obwohl meine Mutter mich zu ihrem früheren Schulkameraden in einer Schuhmacherei als Lehrjunge haben wollte, was mir auch lieber war. Aber der Vater gab's nicht zu, weil kein Geld rein kam.
Ich kam in's Walzwerk (Messingwalzwerk zu Eveking); im Tagelohn von 7 bis 19 Uhr. Mein Bruder, 4 Jahre älter, war schon 2 Jahre drin. Weil die Firma zu weit von zu Hause lag, nahmen wir uns Speck, Butter, Brot, Kaffeemehl, etwas Gemüse, Erbsen und eine Flasche Milch von zu Hause mit und hausten in der Beizung versteckt.
Wir hatten eine Holzkiste an der Wand für Butter, Brot und dergleichen, und eine Kiste auf der Erde für Kartoffeln und zum Sitzen. Wir kochten für uns selbst, aber es sollte nicht sein: Sowie der Fabrikant einen antraf, der seinen Topf unter dem großen Holzglühofen vorholte und nachsehen wollte, ob nicht die Erbsen und der Speck trocken lägen, brüllte er ihn an.
Dieser steckte rasch seinen Speck in die Hosentasche, ließ den Topf offen stehen und lief an seine Arbeitsstelle. Der Fabrikant ließ ihn holen und er mußte den Speck aus der Hosentasche wieder in den Topf tun und den Gusseisendeckel, der Ueberkrempen hatte, damit keine Asche in den Topf fiel, wieder auf die Glut setzen. Wenn einem das Essen nicht zuviel verbrannte, schmeckte es besser als zu Hause.
Morgens um halb sieben Uhr waren wir auf der Fabrik, nahmen unseren Kaffeekessel voll Wasser, ohne Deckel, und stellten den mit einem Holzknüppel in die Glut unter den Dampfkessel. Dann paßten wir auf, denn in ganz kurzer Zeit kochte das Wasser hoch und wenn man den Augenblick versäumte, war der Kessel leer. Mit dem Knüppel nahm man den Kessel wieder heraus und tat das Kaf~feemehl und - wenn man noch hatte - auch Eier hinein und den Deckel drauf.
Dann wusch man sich, schmierte sich ein Butterbrot und aß; in der Zeit waren die Eier schon weich gekocht und man war fertig zur Arbeit. Der Betrieb war zwei Minuten stillgelegt zum Schmieren der Maschine. Um 9 Uhr wurde die Dampfmaschine eine halbe Stunde stillgelegt (es war eine Pause). Schnell schälte man Kartoffeln für das Mittagessen und trank Kaffee. Um 11 Uhr tat man die Kartoffeln in den Topf - zu den von morgens schon kochenden Erbsen mit Speck - unter den großen Holzglühofen. 10.000 kg Platten Messing auf zwei, nur 20 cm hohen Gusseisenwagen konnte der Ofen in einigen Stunden ausglühen. Aufgestapelt auf *.011 Meter hoch wurde der Eisenwagen auf Schienen herausgezogen. Dies geschah mit einer Stange durch Kurbel-Zahnräder und Krücke.
Von 12 bis 13 Uhr war Pause. Man aß und legte sich auf eine Messingplatte auf den warmen Eisenplatten-Fußboden im Glühhaus. Das Lederschutzfell kam auf die Holzschuh unter den Kopf und man hielt seinen Mittagsschlaf; 15.30 bis 16 Uhr war wieder Pause. Um 15 Uhr hatte man wieder Kaffee gekocht; 15.30 Uhr: Kartoffelschälen für den Abend - und zwei Schnitten Schwarzbrot mit Schmalz oder Butter dazwischen - und Kaffee.
Die Töpfe und Tassen wurden nie gewaschen. Der vierte Teil der auf der Fabrik Beschäftigten (ca. 200 Arbeiter) kochten so für sich. Um 19 Uhr abends war Feierabend und die Nachtschicht trat an - mit denselben Formen wie die Tagschicht. Manchmal mußte die Nachtschicht auch schon sonntagabends anfangen; das war peinlich, solange es Tag war und vor unseren großen Fenstern an der anderen Seite des Flusses die Leute im Feiertagsanzug auf und ab gingen.
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