Quelle: ST (Süderländer Tageblatt) vom 20.März, 22. März 1986 und ff.

P. C. C. Bröcker: Alle Sonntage
früh ging Vater zum Wilddieben

Mit 9 Jahren zog der junge Bröcker aus Köbbinghausen fort - Mit
14 Jahren die ersten passenden Schuhe bekommen - Lust zum Lernen

Plettenberg/Herscheid. (HH) Aus La Plata in Argentinien bekam das "Süderländer Wochenblatt" (Tageblatt) im Sommer 1958 ungewöhnliche Post zugesandt. Es war ein 125 Seiten starkes Buch, das die Post auch ohne zusätzliche Verpackung über den Atlantik befördert hatte. Der Absender, P. C. C. Bröcker, hatte die Briefmarken einfach auf den Buchumschlag geklebt und die ST-Anschrift dazugeschrieben. In einem Begleitschreiben bot der fast 85jährige seine Lebensgeschichte zum kostenlosen Abdruck an.

Ob Teile dieses Buches seinerzeit veröffentlicht wurden, ist nicht bekannt. Das Buch wurde uns aber in Erinnerung gerufen, als im Sommer 1985 Manfred Graewe in Elsen im Mauerwerk seines Hauses versteckt einen Schnellhefter mit handgeschriebenen Manuskripten fand (wir berichteten in unserer ersten Folge im ST v. 20. März 1986 darüber). Bei diesen Schriftstücken handelte es sich zweifelsfrei um die Originalmanuskripte des Peter Caspar Carl Bröcker, geschrieben im Jahre 1929.

Warum die 1929 geschriebene, in Elsen versteckte Lebensgeschichte erst 50 Jahre später und dann in gedruckter Form aus Argentinien nach Plettenberg kam, bleibt vorerst ein Rätsel.

Vergleicht man das Originalmanuskript mit dem gedruckten Buch, so erkennt man, daß der 84jährige P. C. C. Bröcker auch noch die Erlebnisse der letzten Lebensjahrzehnte niedergeschrieben hat. "Wahre Ansichten, Erfahrung und Lehren eines 84jährigen" überschreibt Bröcker sein Buch.

Als Viehhüter, Messingwalzer, Fallhammerschmied, Krankenträger und Sanitäter, als Küchenchef, Kommandant über eine Kompagnie von 150 aktiven Soldaten - im I. Weltkrieg sogar über 250 Soldaten - und vieles mehr verdiente P. C. C. Bröcker danach sein Geld. In Deutschland (Elsen?) hat er ein 5-Zimmer-Haus zu einem 19-Zimmer-Haus ausgebaut und in La Plata (Argentinien) ein 18-Zimmer-Haus als Bauführer und Architekt errichtet.


1958 schickte Peter Caspar Carl Bröcker seine Lebenserinnerungen in Buchform aus La Plata/Argentinien nach Plettenberg zur Heimatzeitung.

Lesen Sie, was Peter Caspar Carl Bröcker in seiner Jugend in Köbbinghausen auf dem zugefrorenen Teich der Firma Wagner (heute "plettac"-Gelände) und in den späteren Jahren erlebt hat:

I. Folge der Lebensgeschichte des P. C. C. Bröcker aus Elsen
Sonntags und mittwochs gab's Schweinefleisch mit Knochen (eigene Schlachtung), die übrige Zeit war das Fleisch durchgekocht. Es gab zu Mittag nur einen Gang "Essen ohne Teller". Gab es Fleisch, so legte man sich das Fleisch auf eine Schnitte Schwarzbrot. Abends gab's Bratkartoffel in Rübenöl aus eigener Ernte und hinterher Hafergrütze in Milch, die abgerahmt war.

Der Rest des Hafergrützenbreis wurde am nächsten Morgen warm gemacht für die Schulkinder, auf einen Stuhl gestellt und mit einer Schnitte Brot gegessen. Zur Schule (eine halbe Stunde zu Fuß) bekam jeder 2 Schnitten Brot mit, dazwischen Schmalz oder Rübenkraut. Um 4 Uhr nachmittags zu Hause gab's Kaffee von Roggen oder Brotkrusten geröstet und gemahlen. Ein Jahr waren alle meine 5 älteren Geschwister in der Schule.

Einmal kam der nächste Fabrikant, Wagner, und legte sein Buch offen auf den Tisch. Er sagte, hier im Dorf hätten ihm Einwohner gesagt, die Bröckers könnten auch opfern, Geld und alte Leinwand - "Aber wo 5 Kinder um den Tisch sind und der Vater im Krieg, da kann ich nichts nehmen!" sagte er und schlug das Buch zu.

Die kleinsten, wenn sie gehen konnten, nahmen eine Blechdose und gingen in den Kuhstall. Wenn die Mutter am Melken war, tranken sie die Milch aus dem Melkeimer. Der Grundsatz: "Kopf frei und Füße warm hält Arzt und Apotheke arm" wurde streng beachtet. Lange Strümpfe, aber vor der Militärzeit keine Unterhosen. Wenn wir neue Schuhe haben mußten, setzten wir uns auf die Holzhackstelle und der Vater haute einen Holzleisten und machte uns Schuhe danach, die anfangs drückten, aber mit der Zeit gut waren und lange hielten. Erst nach 14 Jahren habe ich gute, passende Schuhe bekommen.

Mit einem einfachen blauen Kittel (bis 14 Jahre) ging man in die Schule; auch Große trugen Kittel über der Jacke, aber in feiner Ausführung, auch in die Kirche, und auf beiden Seiten zu tragen und waschecht. Viele trugen lange Kittel bis über die Knie.

Kinder bis 4 Jahren trugen Baumwoll-Bieber-Röcke bis auf die Schuhe und machten ihre Entlastung am unteren Ende der Tenne, wo täglich aller Unrat zusammengefegt und als Dünger verbraucht wurde. Die große Düngerstelle mit Abort wurde jährlich von dem Dorfbach ausgespült und auf die 2 Hektar große Wiese und Baumhof geleitet.

Wenn Besuch am Tische war zum Essen, durften wir uns nicht in der Nähe aufhalten, auch nicht nach dem Tisch sehen. Und vor und nach dem Essen betete einer laut. Auch wurde vor und nach dem Schlafen gebetet. Fast nie wurde ein Arzt geholt oder Medizin gekauft. Erkältungen wurden nur durch Flieder- oder Kamillen- und Wermut-Tee und Schwitzen im Bett geheilt.

GENEALOGISCHE DATEN

Peter Casper Carl Bröcker *02.08.1873

Sohn von Peter Caspar Carl Bröcker *12.04.1832 Böddinghausen †25.03.1912 Elsen (er heiratete am 27.03.1862 evang. in Plettenberg die Elisabeth Hohage *1834 aus Erlhage/Werdohl).

Sie hatten folgende Kinder:

1. August *09.08.1862 Köbbinghausen,
2. Mina *18.01.1864 Köbbinghausen
3. Lina Mine *30.09.1865 Köbbinghausen
4. Friedrich Wilhelm *05.01.1868 Köbbinghausen
5. Albert *21.12.1869 Köbbinghausen
6. Peter Casper Carl * 02.08.1873
7. Emma *14.05.1875 Köbbinghausen†08.11.1875 Köbbinghausen
8. Gustav *29.11.1877 †05.12.1878 Köbbinghausen

Einmal, mit 5 Jahren, waren mein Freund, der mit mir getauft war, und ich von meiner Mutter in den nächsten (1 km) Ort (Holthausen) geschickt, um etwas einzukaufen. Da war ein großer Teich an der Fabrik (W. Wagner Köbbinghauser Hammer) mit Eis überzogen. Wir sind auf das Eis und brachen durch bis an den Kopf. Als wir nach Hause kamen, mußten wir sofort ins Bett, Tee trinken und schwitzen - und es hatte keine Folgen gegeben.

Wir hatten eine zweiklassige Volksschule. Ich hatte große Lust zum Lernen. Mehrmals klopfte der Lehrer der ersten Klasse bei uns an und bat "den kleinen Bröcker" für die höhere Klasse zum Kopfrechnen - und die nicht mit mir mitkamen, bestrafte er. Der Lehrer der 2. Klasse hatte zwei Jungen und ein Mädchen (von reichen Bauern) in Extrastunden und bat meinen Vater, mich auch dahin zu schicken. Es sollte uns nichts kosten, damit die drei mehr Fortschritte machten. Aber mein Vater war nicht dafür. Endlich gab er aber doch nach.

Mit 9 Jahren (etwa 1882) verkaufte mein Vater unsere Besitzung (in Plettenberg-Köbbinghausen) und kaufte 5 Kilometer entfernt (Herscheid-Elsen) eine dreimal größere Besitzung zum selben Preise. Aber Haus und Grund waren ganz vernachlässigt. Das Haus war von einem Fachmann gestützt worden, damit es nicht zusammenfiel. An dieser Stelle war die Schule nahebei. Ein junger Lehrer hatte vormittags ca. 50 größere und nachmittags 30 kleinere Schüler.

Kühe hüten statt Schule
Meine Beschäftigung war, mit einem Hund die Kühe zu hüten, weil es keinen Draht zum Einzäunen gab. Und wenn ich montags fertig für die Schule war, sagten die Eltern: "Du mußt die Kühe hüten!" Dienstags dasselbe. Dann kam der Lehrer und sagte, das ginge nicht, denn ich wäre doch nicht krank. Es wurde ihm erklärt, morgen kommt er in die Schule. Am Mittwoch kommt die Frau des Lehrers und schimpft. Als ich in die Schule will, schimpfen die Eltern, sie hätten ja nichts für ihre Kuh und die Ziege. Infolgedessen: Mittwoch auch keine Schule für mich.

Die letzten drei Tage der Woche ging ich in die Schule. Aber jeden Abend kamen 2 bis 3 von der ersten Klasse und fragten mich um die Aufgaben. Und ich und mein Freund G. C. waren jahrelang die Ersten in der Schule - er in Kriegs- und Biblische Geschichten, und ich im Rechnen und Aufsätze schreiben. Auch im Konfirmandenunterricht mußte ich häufig meinen Nachbarn zuflüstern.

Damit Dummheit nicht auffiel
Bei den Schulprüfungen durch den Orts- und Kreisschulinspektor mußten wir bei den ersten schwierigen Aufgaben immer etwas vorlaut sein, damit die Dummheit der (übrigen) Schüler nicht auffiel.

Die beste Erinnerung habe ich an Besuche bei Onkel Fritz (Friedrich Hohage), dem Bruder meiner Mutter. Das Essen war sehr gut, und beim Abschied drückte er einem immer 2 bis 3 Mark in die Tasche. Auch bei den Schwestern meiner Mutter war es ähnlich und der Besuch dort für uns immer ein hoher Feststag: die älteste hatte eine Wirtschaft und Bäckerei, etwas Landwirtschaft und einen Spezereiwarenladen; die andere eine Landwirtschaft. Nie wurden wir angehalten, mehr zu essen - aber bis zum nächsten Essen bekam man nichts.

Immer ein "Wenigesser"
Ich habe beim Militär und an der Front im 1. Weltkrieg Soldaten gekannt,die bei der Essen-Ausgabe die ersten waren und schnell aßen und die zweite Portion auch schnell verschluckten und die dritte Portion sich aufhoben; Aktive bekamen jeden zweiten Abend 3 Pfund Brot, aßen dieses gleich auf und bettelten sich Brot für die nächsten Tage und waren dürr im Aussehen. Nach meiner Ansicht waren die in der Jugend überfüttert. Ich war mein Leben lang immer ein "Wenig-Esser", blieb immer bei 75 kg und war 1,65 m groß.

Was kommt hinter dem Mond?
Noch unter 4 Jahren besann ich mich häufig: Was kommt hinter dem Mond, was ist hinter der Sonne und den Sternen? Ich kam ins Weinen und keiner klärte mich auf.
Wenn mein Vater Schwierigkeiten mit der Behörde hatte, mußte ich immer mit und den Sachverhalt erklären. Alle Sonntage früh ging Vater zum Wilddieben und brachte jedesmal einen Hasen, ein Rebhuhn oder ein Eichhörnchen mit. Wenn mein Vater in die Kirche ging (5 km), kam er an sechs Wirtschaften vorbei und angetrunken nach Hause. Er ist auch einmal an unserem Haus vorbeigegangen (100 m) bis zum Schmied. Dort hatte er den Kittel schon ausgezogen, dann sah er erst den Irrtum. In dieser Schmiede war er jeden Abend, da gab es Schnaps.

Handschuhe selbst gestrickt
Meine älteste Schwester lehrte mich Stricken, Häkeln und Nähen. Ich war begeistert dabei und beim Kühehüten habe ich immer gestrickt. Eine Nachbarsfrau hielt mich an, für ihre drei Jungen Strümpfe zu stricken, was sie mir gut bezahlte. Jetzt konnte ich mir Griffel, Bleistifte, Hefte dafür kaufen. Auch bekam ich auf Kirchmess (Kirmes) eine Mark für das Mithüten ihrer Kuh und ihrer Ziege.


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