So werd' ich Mittel wissen, ihnen andere Sitten beizubringen!

Jung-Stillings Jugend

erschienen 1777 bei Georg Jakob Decker in Berlin

Johann Henrich (Heinrich) Jung, genannt Heinrich Stilling, Sohn eines Schneiders und Schullehrers, Enkel eines Kohlenbrenners,
*12.09.1740 in Grund bei Hilchenbach,
† 02.04.1817 in Karlsruhe.

Im Alter von 32 Jahren schrieb er seine Kindheits- und Jugenderinnerungen. Er konnte schon als 8jähriger fließend lesen. Im Alter von 15 Jahren nahm er die erste Stelle als Schullehrer in Plettenberg-Himmelmert an. Von 1763-1771 war er als Schullehrer, dann als Kaufmann in Elberfeld bei dem wohlhabenden Peter Johann Flender tätig.
Durch einen Zufall war Jung-Stilling in den Besitz eines Traktats über Augenheilkunde gekommen, das bis dahin einem katholischen Pfarrer namens Molitor aus Attendorn gehört hatte.

Ausgerüstet mit nichts anderem als den Unterweisungen dieses Traktats hatte Pater Molitor jahrelang Augenkrankheiten kuriert. Kurz vor seinem Lebensende übergab er Stilling das Manuskript, der nun in ähnlicher Weise wie Molitor weiterwirkte und bald erfolgreiche Staroperationen unternahm. (Dieter Cunz, Ohio State University, als Nachwort des 1990 im RECLAM-Verlag, Stuttgart, erschienenen Nachdrucks "J. H. Jung-Stilling - Henrich Stillings Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft und häusliches Leben")

Erläuterungen:
Dorlingen = Plettenberg (Himmelmert) - Florenburg = Hilchenbach - Tiefenbach = Grund - Steifmann = Stahlschmidt

. . . Henrich Stillings Leiden stürmten nun mit voller Kraft auf ihn zu, er glaubte fest, er sei nicht zum Schneiderhandwerk geboren, und er schämte sich von Herzen so dazusitzen, und zu nähen; wenn daher jemand Ansehnliches in die Stube kam so wurde er rot im Gesicht.
Einige Wochen hernach begegnete dem Ohm Simon Herr Pastor Stollbein im Fuhrweg; als er den Pastor von ferne herreiten sahe, arbeitete er sich über Hals und Kopf mit dem Ochsen und seiner Karre aus dem Wege auf das Feld, stellte sich mit dem Hut in der Hand neben den Ochsen hin, bis Herr Stollbein herzukam.
"Nu, was macht euers Schwagers Sohn?" "Er sitzt am Tisch und näht!" "Das ist recht! so will ich's haben!"

Stollbein ritte fort, und Simon fuhr seiner Wege nach Haus. Alsofort erzählte er Wilhelmen was der Pastor gesagt hatte; Henrich hörte es mit größtem Herzeleid; ermunterte sich aber wieder, als er sahe, wie sein Vater mit aufgebrachtem Gemüt, das Nähzeug von sich warf, aufsprang, und mit Heftigkeit sagte: "Und ich will haben er soll Schul' halten, sobald sich Gelegenheit dazu äußert!" Simon versetzte, "Ich hätt' ihn zu Zellberg gelassen, der Pastor wird doch noch zu bezwingen sein." "Das hätte wohl geschehen können", antwortete Wilhelm, "aber man hat ihn hernach doch immer auf den Hals, und wird seines Lebens nicht froh. Leiden ist besser als Streiten." "Meinetwegen", fuhr Simon fort, "ich schier mich nichts um ihn, er sollte mir nur einmal zu nahe kommen!" Wilhelm schwieg, und dachte: das läßt sich in dcr Stube hinterm Ofen gut sagen.
Die mühselige Zeit des Handwerks dauerte vorjetzo nicht lange, denn vierzehn Tage vor Weihnachten kam ein Brief von Dorlingen aus der westfälischen Grafschaft Mark in Stillings Hause an. Es wohnte daselbst ein reicher Mann, namens Steifmann, welcher den jungen Stilling zum Hausinformator verlangte. Die Bedinge waren: daß Herr Steifmann von Neujahr an, bis nächste Ostern Unterweisung für seine Kinder verlangte; dafür gab er Stillingen Kost und Trank, Feuer und Licht; fünf Reichstaler Lohn bekam er auch, allein dafür mußte er von den benachbarten Bauern so viel Kinder in die Lehre nehmen, als sie ihm schicken würden, das Schulgeld davon zog Steifmann; auf die Weise hatte er die Schule fast umsonst.
Die alte Margrethe, Wilhelm, Elisabeth, Mariechen und Henrich, beratschlagten sich hierauf über diesen Brief. Margrethe fing nach einiger Uberlegung an: "Wilhelm, behalt den Jungen bei dir! denk einmal! ein Kind so weit in die Fremde zu schicken, ist kein Spaß, es gibt wohl hier in der Nähe Gelegenheit vor ihn". "Das ist auch wahr!" sagte Mariechen, "mein Bruder Johann sagt oft: daß die Bauern daherum so grobe Leute wären, wer weiß, was sie mit dem guten Jungen anfangen werden, behalt ihn hier, Wilhelm!" Elisabeth gab auch ihre Stimme; sie hielte aber dafür: daß es besser sei, wenn sich Henrich etwas in der Welt versuchte; wenn sie zu befehlen hätte, so müßte er ziehen. Wilhelm schloß endlich, ohne zu sagen warum; wenn Henrich Lust zu gehen hätte, so wär' er es wohl zufrieden. "Ja wohl bin ich's zufrieden!" fiel er ein, "ich wollte, daß ich schon da wär'!" Margrethe und Mariechen wurden traurig, und schwiegen still. Der Brief wurde also von Wilhelmen beantwortet, und alles eingewilligt.

Dorlingen lag neun ganzer Stunden von Tiefenbach ab. Vielleicht war seit hundert Jahren niemand aus der Stillingschen Familie so weit fort gewandert, und so lang abwesend gewesen. Einige Tage vor Henrichs Abreise trauerten und weinten alle, nur er selber war innig froh. Wilhelm verbarg seinen Kummer soviel er konnte. Margrethe und Mariechen empfanden zu sehr, daß er Stilling war, deswegen weinten sie am meisten; welches in den blinden Staraugen der alten Großmutter erbärmlich aussahe.
Der letzte Morgen kam, alles versank in Wehmut. Wilhelm stellte sich hart gegen ihn; allein, der Abschied machte ihn nur desto weicher. Henrich vergoß auch viele Tränen, aber er lief, und wischte sie ab. Zu Lichthausen kehrte er bei seinem Ohm, Johann Stilling, ein, der ihm viel schöne Leh- ren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn mitnehmen soll- ten, und Henrich reiste freudig mit ihnen fort.
Die Gegenden, welche er in dieser Jahrszeit durchzureisen hatte, sahen recht melancholisch aus. Sie machten Eindrücke auf ihn, die ihn in eine gewisse Niedergeschlagenheit versetzten. Wenn Dorlingen in einer solchen Gegend liegt, dachte er immer, so wird mir's doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute, mit denen er reiste, waren von daher zu Haus; er merkte oft, wie sie zusammen hinter ihm hergingen, und über ihn spotteten; denn weilen er nichts mit ihnen sprach, und vor die Zeit etwas blöd aussahe, so hielten sie ihn für einen Schafskopf, mit dem man machen könnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn einer von hinten her, und wenn er dann umsahe, so stellten sie sich, als wenn sie wichtige Sachen unter sich auszumachen hätten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben fähig seinen Lorn zu reizen; er litte das ein paarmal, endlich drehte er sich um, sahe sie scharf an, und sagte: "Hört Ihr Leute, ich bin und werde Euer Schulmeister zu Dorlingen, und wenn Eure Kinder so ungezogene Bengels sind, wie ich vermute, so werd ich Mittel wissen, ihnen andre Sitten beizubringen, das könnt Ihr ihnen sagen, wenn Ihr nach Haus kommt!" Die Fuhrleute sahen sich an, und bloß um ihrer Kinder willen ließen sie ihn zufrieden.
Des Abends spät um neun Uhr kam er zu Dorlingen an. Steifmann betrachtete ihn von Haupt bis zu Fuß, so auch seine Frau, Kinder und Gesinde. Man gab ihm zu essen, und darauf legte er sich schlafen. Als er des Morgens früh erwachte, erschrak er sehr, denn er sahe die Sonne, seinem Begriff nach, in Westen aufgehen, sie rückte gegen Norden in die Höhe, und ging des Abends in Osten unter. Das wollte ihm gar nicht in den Kopf; und doch hatte er so viel von der Astronomie und Geographie begriffen, daß er wohl wußte, die Zellberger und Tiefenbacher Sonne sei ebendieselbe, die auch zu Dorlingen leuchtete. Dieser seltsame Vorfall verrückte ihm sein Konzept, und jetzt wünschte er von Herzen, seines Ohmen Johanns Kompaß zu haben, um zu sehen, ob audz die Magnetnadel mit der Sonnen einig sei, ihn zu betrügen. Er erfand zwar endlich die Ursache dieser Erscheinung; er war den vorigen Abend spät angekommen, und hatte die allmähliche Krümmung des Tals nicht bemerkt. Allein er konnte doch seine Einbildung nirht bemeistern, alle Aussichten in die rohe und öde Gegenden, kamen ihm auch aus diesem Grunde traurig und fatal vor. Steifmann war reich, er hatte viel Geld, Güter, Ochsen, Kühe, Schafe, Ziegen und Schweine, dazu seine Stahlfabrik, worinnen Waren verfertiget wurden, mit denen er Handlung trieb. Er hatte jetzt nur erst die zweite Frau, hernach aber hat er die dritte, oder wohl gar die vierte, geheiratet; das Glück war ihm so günstig, daß er verschiedene Frauen narheinander nehmen konnte, wenigstens schien ihm das Sterben und Wiedernehmen der Weiber eine besondere Belustigung zu sein. Die jetzige Frau war ein gutes Schaf, ihr Mann redete oft gar erbaulich mit ihr von den Tugenden seiner ersten Frauen, so, daß sie, aus großer Empfindung des Herzens, oft blutige Tränen weinte. Sonsten war er gar nicht zum Zorn aufgelegt; er redete nicht viel, was er aber sagte, das war von Gewicht und Nachdruck, weilen es gemeiniglich jemand der gegenwärtig war, beleidigte. Er ließ sich auch anfänglich mit seinem neuen Schulmeister in Gespräche ein allein, er gefiel ihm nicht. Von allem, was Stilling gewohnt war zu reden, verstund er nicht ein Wort, ebensowenig, als Stilling begriff, wovon sein Patron (Dienstherr, Arbeitgeber) redete. Daher schwiegen sie beide, wenn sie beisammen waren.
Des folgenden Montags morgens ging die Schule an; Steifmanns drei Knaben machten den Anfang. Vor und nach fanden sich bei achtzehn große vierschrötige Jungens ein, die sich gegen ihren Schulmeister verhielten wie so viel Patagonier (Bewohner der südamerikanischen Landschaft Patagonien) gegen einen Franzosen. Zehn bis zwölf Mädchen von ebendem Schrot und Korn kamen auch, und setzten sich hinter den Tisch. Stilling wußte nicht recht, was er mit diesem Volk anfangen sollte, ihm war bang für so vielen wilden Gesichtern; doch versuchte er die gewöhnliche Schulmethode, und ließ sie beten, singen lesen und den Katechismus lernen.
Dieses ging ungefähr vierzehn Tage seinen ordentlichen Gang; allein, nun war es auch geschehen, ein oder anderer kosakenähnlicher Junge versuchte es, den Schulmeister zu necken. Stilling brauchte den Stock rechtschaffen, aber mit so widrigem Erfolg: daß, wenn er sich müde auf dem starken Buckel zerdroschen hatte, der Schüler aus vollem Hals lachte, der Schulmeister aber weinte. Das war dann dem Herrn Steifmann so seine liebste Belustigung; wenn er in dem Schulstübchen Lärm hörte, so kam er, tat die Tür auf, und ergötzte sich von Herzen.
Dieses Verfahren gab Stillingen den letzten Stoß. Seine Schule wurde zum polnischen Reichstag, wo ein jeder tat, was ihn recht dauchte. So wie nun der arme Schulmeister in der Schule alles gebrannte Herzeleid ausstund, so hatte er auch außer derselben keine frohe Stunde. Bücher fand er wenig, nur eine große Baseler Bibel deren Holzschnitte er durch und durch wohl studierte, auch wohl darinnen lase wiewohl er sie oft durchgelesen hatte. "Zions Lehr und Wunder" von Doktor Mells (Conrad Mel - 1666-1733, Theologe, Erbauungsschriftsteller "Zions Lehr und Wunder" oder Predigten über die Sonn- und Festtagsevangelien" 1713) nebst noch einigen alten Postillen und Gesangbüchern, stunden auf der Kleiderkammer auf einem Brett in guter Ruhe, und waren wohl, seitdem sie Herr Steifmann geerbt hatte, wenig gebraucht worden. In dem Hause selbsten war ihm niemand hold, alle sahen ihn für einen einfältigen dummen Knaben an; denn ihre niederträchtige, ironisch-zotichte und zweideutige Reden verstund er nicht, er antwortete immer gutherzig, wie er's meinte nach dem Sinn der Worte, surhte überhaupt einen jeden mit Liebe zu gewinnen, und dieses war eben der gerade Weg eines jeden Schuhputzer zu werden.
Doch trug sich einsmalen etwas zu, das ihn leicht das Leben hätte kosten können, wenn ihn der gütige Vater der Menschen nicht sonderlich bewahrt hätte. Er mußte sich des Morgens selbsten Feuer in den Ofen machen; als er nun einmal kein Holz fand, so wollte er sich etwas holen; nun war über der Küchen her eine Rauchkammer, wo man das Fleisch räucherte, und zugleich das Holz trocknete. Die Dreschtenne stieß an die Küche, und von dieser Tenne ging eine Treppe nach der Rauchkammer. Es waren just sechs Taglöhner am Dreschen. Henrich lief die Treppe hinauf, machte die Tür auf, aus welcher der Rauch, wie eine dicke Wolke, herauszog; er ließ die Tür offen, tat einen Sprung nach dem Holz, griff etliche Stüdse, indessen wirbelte einer von den Dreschern auswendig die Tür zu. Der arme Stilling geriet in Todesangst, der Rauch erstickte ihn, es war stockfinster da, er wurde irre, und wußte nicht mehr, wo die Tür war. In diesem erschredslichen Zustand tat er einen Sprung gegen die Wand, und traf just gerade gegen die Tür, dergestalt, daß der Wirbel zerbrach, und die Tür aufsprung. Stilling stürzte die Treppe herunter, bis auf die Tenne, wo er betäubt und sinnlos hingestreckt lag. Als er wieder zu sich selbst kam, sahe er die Drescher nebst Herrn Steifmann um sich stehen, und aus vollem Halse lachen. "Des sollte doch der T.... nicht lachen!" sagte Steifmann. Dieses ging Schillingen durch die Seele. "Ja!" antwortete er, "der lacht würklich, daß er endlich einmal seinesgleichen gefunden hat." Das gefiel seinem Patron außerordentlich, und er pflegte wohl zu sagen: das sei das erste und auch das letzte gescheute Wort gewesen, das er von seinem Schulmeister gehört habe.
Das beste indessen bei der Sache war, daß Stilling keinen Schaden genommen hatte; er überließ sich gänzlich der Wehmut, weinte sich die Augen rot, und erlangte weiter nichts dadurch, als Spott. So traurig ging seine Zeit vorüber, und seine Wonne am Schulhalten wurde ihm häßlich versalzen.
Sein Vater Wilhelm Stilling war indessen zu Haus mit angenehmern Sachen beschäftiget. Die Wunde über Dortchens Tod war heil, er erinnerte sich allezeit mit Zärtlichkeit an sie; allein, er trauerte nicht mehr, sie war nun vierzehn Jahr tot, und seine strenge mystische Denkungsart milderte sich insoweit, daß er jetzt mit allen Menschen Umgang pfloge, doch war alles mit freundlichem Ernst, Gottesfurcht, und Rechtschaffenheit vermischt, so, daß er Vater Stilling ähnlicher wurdr, als eins seiner Kinder. Er wünschte nun auch einmal Hausvater zu werden, eigenes Haus und Hof zu haben, und den Ackerbau neben seinem Handwerk zu treiben; deswegen suchte er sich jetzt eine Frau, die neben den nötigen Eigenschaften, Leibes und der Seelen, auch Haus und Güter hätte; er fand bald was er suchte.
Zu Leindorf, zwo Stunden von Tiefenbach westwärts, war eine Witwe von achtundzwanzig Jahren, eine ansehnliche brave Frau; sie hatte zwei Kinder aus der ersten Ehe, wovon aber eins bald nach ihrer Hochzeit starb. Diese war recht froh, als sie Wilhelm begehrte, ob er gleich gebrechliche Füße hatte. Die Heurat wurde geschlossen, der Hochzeitstag bestimmt, und Henrich bekam einen Brief nach Dorlingen, der in den wärmsten und zärtlichsten Ausdrüdien, deren sich nur ein Vater gegen seinen Sohn bedienen kann, die ganze Sache bekannt machte, und ihn auf den bestimmten Tag zur Hochzeit einlud. Henrich las diesen Brief, legte ihn hin, stund und bedachte sich, er mußte sich erst tief prüfen, ehe er finden konnte, ob ihm wohl oder weh dabei ward; so ganz verschiedene Empfindungen stiegen in seinem Gemüt auf. Endlich schritte er ein paarmal vor sich hin, und sagte zu sich selbst: "Meine Mutter ist im Himmel, mag diese einsweilen in diesem Jam·nertal bei mir und meinem Vater ihre Stelle vertreten. Dereinsten werd ich doch diese verlassen, und jene suchen. :Vlein Vater tut wohl! - Ich will sie doch recht liebhaben, und ihr allen Willen tun, so gut ich kann, so wird sie mirh wieder lieben, und ich werde Freude haben."
Nun machte er Steifmann die Sache bekannt, forderte etwas Geld, und reiste nach Tiefenbach zurück. Er wurde daselbst von allen mit tausend Freuden empfangen, besonders von Wilhelmen, dieser hatte ein wenig gezweifelt, ob sein Sohn auch wohl murren würde; da er ihn aber so heiter kommen sah, flossen ihm die Tränen aus den Augen, er sprung auf ihn zu, und sagte: "Willkommen, Henrich!" "Willkommen, Vater! Ich wünsche Euch von Herzen Glück zu Eurem Vorhaben, und ich freue mich sehr, daß Ihr nun in Eurem Alter Trost haben könnt, wenn's Gott gefällt." Wilhelm sunk auf einen Stuhl, hielt beide Hände vors Gesicht und weinte. Henrirh weinte auch. Endlich fing Wilhelm an: "Du weißt, ich hab mir in meinem Witwerstand fünfhundert Reichstaler erspart; idz bin nun vierzig Jahr' alt, und ich hätte vielleicht noch vieles ersparen können, dieses alles entgeht dir nun; du wärst doch der einzige Erbe davon gewesen!"
"Vater, ich kann sterben, Ihr könnt sterben, wir beide können noch lange leben, Ihr könnt kränklich werden, und mit Eurem Geld nidit einmal auskommen. Aber, Vater! ist meine neue Mutzer, meiner seligen Mutter ähnlich?"
Wilhelm hielt wiederum die Hände vor die Augen. "Nein!" sagte er, "aber sie ist eine brave Frau." "Auch gut",. sagte Henrich, und stund ans Fenster, um noch einmal seine alte romantische Gegenden zu schauen. Es lag kein Schnee. Die Aussicht in den nahen Wald kam ihm so angenehm eor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beschloß hin zu spazieren; er ging den Hof hinauf, und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt, und sich ziemlich von den Häusern entfernt hatte, wurde es ihm so wohl in seiner Seelen, er vergaß der ganzen Welt, und wandelte in Gedanken vertieft, vor sich hin; indessen kam er unvermerkt an die Westseite des Geisenberger Schlosses. Schon sah er zwischen den Stämmen der Bäume durch, auf dem Hügel die zerfallene Mauern liegen. Das überraschte ihn ein wenig. Nun rausrhte etwas zur Seiten im Gesträuche, er schaute hin, und sahe ein anmutiges Weibsbild stehen, blaß, aber zärtlich im Gesicht, in Leinen und Baumwolle gekleidet. Er schauderte, und das Herz klopfte ihm, da es aber noch früh am Tage war, so furchte er sich nicht; sondern fragte: "Wo seid Ihr her?" Sie antwortete: "Von Tiefenbach." Das kam ihm fremd vor, denn er kannte sie nicht. "Wie heißt Ihr denn?" - "Dort- chen." Stilling tat einen hellen Schrei, und sank zur Erden in Ohnmacht.
Das gute Mädchen wußte nicht, wie ihr geschah; sie kannte den jungen Burschen auch nicht. Denn sie war erst als Magd auf Neujahr nach Tiefenbarh gekommen. Sie lief bei ihn, kniete bei ihn auf die Erde und weinte. Sie ver- wunderte sich sehr über den jungen Menschen, besonders, daß er so weiche Hände, und ein so weißes Gesirht hatte; auch waren seine Kleider reiner und sauberer, auch wohl ein wenig besser, als der andern Burschen ihre. Der Fremde ge- fiel ihr. Indessen kam Stilling wieder zu sich selber, er sahe die Weibsperson nahe bei sich, er richtete sich auf, sah sie starr an, und fragte zärtlich: "Was macht,Ihr hier?" Sie ant- wortete sehr freundlich: "Ich will dürres Holz lesen. Wo seid Ihr her?" Er erwiderte: "Ich bin auch von Tiefenbach, Wilhelm Stillings Sohn." Nun hörte er, daß sie seit Neujahr erst Magd daselbst war; und sie hörte seine Umstände, es tat beiden leid, daß sie sich verlassen mußten. Stilling spa- zierte nach dem Schloß, und sie lase Holz. Es hat wohl zwei Jahr' gedauert, eh' das Bild dieses Mädchens in seinem Herzen verlosch, so fest hatte es sirh seiner Seelen eingeprä- get. Als die Sonne sich zum Untergang neigte ging er wieder nach Haus; er erzählte aber nichts von dem, was vorgefallen war, nicht so sehr aus Verschwiegenheit, sondern aus andern Ursachen. Des andern Tages ging er mit seinem Vater, und andern Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; seine Stiefmutter empfing ihn mit aller Zärtlichkeit, er gewann sie lieb, und sie liebte ihn wieder; Wilhelm freute sirh dessen von Herzen. Nun erzählte er auch seinen Eltern, wie betrübt es ihm zu Dorlingen ginge. Die Mutter riete, er sollte zu Haus bleiben, und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm sagte: NWir haben nodi immer Wort gehalten, es darf an dir nicht fehlen; tun's andre Leute nicht, so müssen sie's verantworten; du mußt aber deine Zeit aushalten.K Dieses war Stillingen auch nicht sehr zuwider. Des andern Morgens reiste er wieder nach Dorlingen. Allein, seine Schüler kamen nicht wieder; das Frühjahr rückte heran, und ein jeder begab sich aufs Feld. Da er nun nichts zu tun hatte, so wies man ihm verächtliche Dienste an, so, daß ihm sein tägliches Brot recht sauer wurde. Noch vor Ostern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns Knechte beschlossen, ihn recht trunken zu machen, um so recht ihre Freude an ihm zu haben. Als sie des Sonntags aus der Kirche kamen, sagte einer zum andern: "Laßt uns ein wenig wärmen ehe wir uns auf den Weg begeben", denn es war kalt, und sie hatten eine Stunde zu gehen.
Nun war Stilling gewohnt, in Gesellschaft nach Haus zu gehen; er trat deswegen mit hinein, und setzte sich bei dem Ofen. Nun ging's ans Brannteweintrinken, der mit einem Sirup versüßt war; der Schulmeister mußte mittrinken; er merkte bald, wo das hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, spie ihn aber unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefäß. Die Knechte bekamen also zuerst einen Rausch, und nun merkten sie nicht mehr auf den Schulmeister, sondern sie betrunken sich selbsten aufs beste; unter diesen Umständen suchten sie endlich Ursache an Stilling, um ihn zu schlagen, und kaum entkam er aus ihren Händen. Er bezahlte seinen Anteil an der Zeche, und ging heimlich fort.
Als er nach Haus kam, erzählte er Herrn Steifmann den Vorfall; allein der lachte darüber. Man sah ihm an, daß er den mißlungenen Anschlag bedauerte. Die Knechte wurden nun vollends wütend, und suchten allerhand Gelegenheit, ihm eins zu versetzen; allein Gott bewahrte ihn.
Noch zwei Tage vor seiner Abreise traf ihn ein Bauernsohn aus dem Dorf auf dem Feld; er war mit bei der Branntweinszeche gewesen, dieser griff ihn am Kopf und runge mit ihm, ihn zur Erde zu werfen; es war aber zu gutem Glück ein alter Greis nahe dabei im Hof, dieser kam herzu, und fragte: was ihm der Schulmeister getan habe? Der Bursche antwortete: "Er hat mir nichts getan, ich will ihm nur ein paar um die Ohren geben". Der alte Bauer aber griff ihn, und sagte gegen Stilling: "Geh du nach Haus!" und darauf gab er ihm einige derbe Maulschellen, und versetzte: "Nun geh du auch zu Haus, das hab ich nur so vor Spaß getan".
Den zweiten Ostertag nahm Stilling seinen Abschied zu Dorlingen, und des Abends kam er wiederum bei seinen Eltern zu Leindorf an.


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