Quelle: Lüdenscheider Nachrichten vom 25.09.2010
Die Anfänge moderner Wasserversorgung

"Die Natur holt sich alles zurück"
Teil IX der LN-Serie: Gigantisches Wasserbauwerk zieht sich durch die Unterwelt der Homert. Die Leistungen des Geheimen Baurates Henoch aus Gotha. Früher Hauptwasserleitung für die Städter, heute Rückzugsraum für Fledermäuse


Foto: Horst Hassel

Von Olaf Moos

Lüdenscheid. An einem Tag im Frühjahr 1887 war es, nahe der Ortschaft Ruck, nicht weit von der Homert. Wie der Bauer hieß, der da seinen Acker pflügte, ist nicht überliefert. Sicher ist aber, dass er Opfer einer mutmaßlichen Pfuscherei wurde. Ein Jahr zuvor hatten Arbeiter im bergmännischen Vortrieb einen Stollen gegraben, um eine Quelle zu fassen. Der felsige Untergrund war wohl klüftig. Der Verzicht auf eine Ausmauerung war ein Fehler, der Stollen brach ein. Der Bauer und sein Pflug versanken im Erdboden. So erzählt es Horst Schöppner, bis 1996 Betriebsingenieur bei den Stadtwerken und Kenner der Geschichte des Lüdenscheider Wasserbaus.

Das waren damals die schlechten Erfahrungen mit der modernen Wasserversorgung für Lüdenscheid. Der Rest ist eine Erfolgsgeschichte. Und führt heute in den dichten Wäldern rings um die Homert zu fast vergessenen Relikten vormalig revolutionärer Errungenschaften, zu Eingängen in ein mehr als zweieinhalb Kilometer langes begehbares Stollensystem - zu "verborgenen Orten".

Auf der Suche nach den rotziegeligen Portalen geht es über feuchten Waldboden, der nach Pilzen riecht und weich ist von der Rotte ungezählter Laubschichten. "Die Natur holt sich alles zurück", sagt Horst Schöppner, und es klingt kein Bedauern mit. Obwohl der Ingenieur, früher Abteilungsleiter für Gas und Wasser, fasziniert ist von der Kunst der frühen Wasserbauer.

In diesem Fall von dem Geheimen Baurat Henoch aus Gotha. 1879 hatte dieser der Stadt Neuss angeboten, "für eigene Rechnung und Gefahr eine Wasserleitung in hiesiger Stadt anzulegen." Doch der Bochumer Unternehmer Heinrich Scheven schnappte ihm den Auftrag vor der Nase weg. Aber als sich 1881 die Lüdenscheider Wassergenossenschaft gegründet hatte - vier Jahre zuvor war bereits die Zisterne in der Oberstadt fertig, es gab 140 Einzelbrunnen für die etwa 15.000 Einwohner -, unterschrieb Henoch aus Gotha einen Vertrag. Er sollte aus dem Brenscheider Tal, von der Höh und von der Homert Wasser in die Stadt leiten. Gebraucht wurden 1.000 Kubikmeter pro Tag.


Foto: Horst Hassel

Dirk Schmidt, heute Leiter der Betriebsstelle Gas und Wasser bei den Stadtwerken, lehnt an der Stahltür zum Eingang I des Stollens und stemmt sich gegen den Stiel des Spitzhammers. Nur langsam gibt die Tür nach. Und als sie sich endlich schwerfällig aufdrücken lässt, dringt kühle, modrige Luft ins Freie.

So mag es auf der Homert gerochen haben, als Henoch aus Gotha sich mit Bergbauexperten aus dem Ruhrgebiet ins felsige Eingeweide des Sauerlandes wühlte. Es gab ein großflächiges Hochmoor hier. Gute Voraussetzungen, um genug Wasser zu gewinnen und in die Stadt zu spülen. Ein 400 Kubikmeter Hochbehälter auf der Höh und das Rohrnetz hinunter in die Stadt waren schon fertig. Zwischen Homert und Höh liegen nur 6 Meter Höhenunterschied - von 467 aus 461 über Normalnull.

Der Haupttunnel und seine Seitenarme sollten den Behälter und die Brunnen dauerhaft füllen. Wasser war nun vermehrt nicht nur zum Durstlöschen oder für die Körperpflege wichtig. Die wachsende Industrie dürstete nach "Triebwasser", wie Horst Schöppner sagt. Also Wasser, mit denen die Fabriksken-Besitzer unter Druck ihre Pumpen und Transmissions-Maschinen antreiben konnten.

Eine Spundwand wird sichtbar, wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Eine Lampe leuchtet das dahinter liegende Tonnengewölbe aus. Ein paar Meter weiter hinten eine Wand. "Das ist ein Quergang", sagt Dirk Schmidt. Glasklares Wasser steht in der Schlammrinne in der Mitte des Ganges. Zahllose Tröpfchen fallen und spielen ein Konzert. "Das ist Oberflächenwasser." Durchgeleitet wird hier schon lange nichts mehr.

Und gereinigt auch nicht. Seit dem Fall der Berliner Mauer nicht mehr. Einmal im Jahr waren Stadtwerker zuvor mit Schaufeln und Eimern in dem Tunnelsystem unterwegs gewesen. Als die DDR aufhörte zu existieren, war auch der "Kalte Krieg" vorbei. Und die Gefahr, dass Militärs die sauerländischen Talsperren vergiften, war Vergangenheit. Die Szenarien für den schlechtesten Fall verschwanden in Schubladen. In ihnen war von der Wiederbelebung der alten Wasserbauanlage die Rede, von Rationierung des Trinkwassers. Zwei Liter pro Tag pro Person. Und von zentralen Abgabestellen.

Es hätte sicher funktioniert. Der Geheime Baurat Henoch aus Gotha und seine Bergleute haben für die Ewigkeit gebaut - vom Einsturz des Stollens nahe der Ortschaft Ruck abgesehen. Ein Viertel der Gesamtstrecke ist ausgemauert. Alle Quelleinfassungen haben trotzdem nicht überlebt. Einige fielen dem Bau der Sauerlandlinie (A 45) zum Opfer. Anfang der 1970er-Jahre haben die Stadtwerke durch das Tunnelsystem noch einmal Wasser abgezapft und zur A 45 geliefert, für den Bau zweier Brücken. Seither liegt das Wasserbauwerk an der Homert brach.


Foto: Horst Hassel

Dirk Schmidt und Horst Schöppner stapfen durch das Unterholz und suchen den nächsten Zugang. Ihr Blick bleibt an einem unnatürlich wirkenden Hügel hängen, der sich wie eine bewaldete Landzunge über den Boden erhebt. Zugang gefunden. "Das ist eine Abraumhalde", sagt Horst Schöppner. Beim bergmännischen Vortrieb haben die Hauer Schienen in dem Stollen verlegt und Erdreich und Felsbrocken mit kleinen Kipploren ins Freie geschoben, vor dem Eingang aufgehäuft und liegengelassen.

Zwei Jahre nach Ende des Baus - ein Arbeiter hatte dabei sein Leben gelassen - war das Hochmoor weitgehend entwässert. Die Lieferzahlen sanken von 1.000 auf 550 Kubikmeter pro Tag. Die Wasserbauer fassten eine neue Quelle im Versetal ein. Von Treckinghausen - Standort des heutigen Wasserwerks - drückten riesige dampfgetriebene Pumpen das Wasser hoch zum Piepersloh. Etwa dort, wo heute der Kreisverkehr liegt, traf sich diese Leitung mit dem Hauptrohr von der Homert. Die Wassermenge reichte dann wieder aus.

Über den Stahltüren in den Portalen zur Unterwelt fehlt jeweils ein Stein. Deshalb ist Dirk Schmidt einmal pro Jahr hier. Dann schließt er den Fachleuten vom Naturschutzbund NABU die Türen auf. Sie zählen und wiegen die Fledermäuse, die die Lücke über der Tür als Einflugschneise in den Stollen nutzen. Nahezu gleichbleibende Temperatur und Luftfeuchtigkeit sind für die empfindlichen Tierchen wichtig. Je mehr es von ihnen gibt, desto besser ist der Zustand der Natur. Dirk Schmidt sagt: "Es werden von Jahr zu Jahr merh, das ist schön."
Und Horst Schöppner lächelt: "Die Natur holt sich alles zurück."





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