75 Jahre Kinderheimat eV Oesterau

von Horst Hassel (©) - 29.08.1998


Kinderheim um 1930 So sah das Gebäude der Kinderheimat e.V. in Oesterau Anfang der 30er Jahre aus. Inzwischen wurde es mehrfach umgebaut und erweitert. Geblieben ist der herrliche Park mit den großen Kastanien.

Die Kinderheimat eV in Oesterau feierte am 29. August 1998 in der Oesterhalle im Beisein vieler Ehemaliger, darunter die Schwestern Lydia und Dorothea, ihren 75. Geburtstag. Das einstige Kinderheim ist seit 1987 ein Kinderhaus. 1998 sind dort sieben Kinder wie in einer Pflegefamilie untergebracht.

Die Kinderheimat ist heute eine Einrichtung der Diakonie, Träger ist ein eigener Verein mit rund 70 Mitgliedern. Vorsitzender des Vereins ist Edgar Goseberg. Geleitet wird die Kinderheimat seit zwölf Jahren von den Hauseltern Wolfgang und Irmgard Klemen.

Normalerweise nimmt das Kinderhaus Kinder etwa bis zum 11. Lebensjahr auf. Waren es früher elternlose Kinder, sind es heute Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen mindestens zeitweise nicht mehr in ihrer Familie bleiben können. Dabei kann die Aufnahme im Verhalten der Kinder und/oder in den Schwierigkeiten der Eltern ihre Ursache haben.


Der Anfang

Begonnen hatte alles schon 1914: damals führten Mimi Brockhaus und ihre Cousine Emmy Voorhoeve in Holland eine christliche Erholungsmaßnahme für deutsche und holländische Kinder durch. Der 1. Weltkrieg beendete diese Freizeit. Die beiden Frauen wollten aber die Kinderbetreuung fortsetzen. Im Frühjahr 1922 begann man deshalb in Oesterau mit dem Bau eines Hauses. Zum Abschluß gebracht werden konnte der Bau, der 10 Millionen Reichsmark Baukosten verschlang, vor allem durch die Hilfe holländischer Brüder, die einige tausend Gulden spendeten.

Mimi Brockhaus u. Emmy Voorhoeve Mimi Brockhaus (li.) und Emmy Voorhoeve waren das erste Heimleiterpaar der 1923 gegründeten Kinderheimat. (Repros: Hassel)

Am 22. Dezember 1922 wurde die Satzung für die Gründung der Kinderheimat eV erstellt, im Februar 1923 trifft ein Eisenbahnwaggon mit Möbeln und Kleidung von Dr. Nico Voorhoeve aus Holland ein, am 12. März 1923 erfolgte die Eintragung ins Vereinsregister. Den Vorstand bildeten damals Ernst Brockhaus, Dr. W. Helmes und Emilie Voorhoeve. Das erste Kind wurde am 29. März 1923 in die Kinderheimat Oesterau aufgenommen.

Die Gründungszeit war geprägt von Inflation und dem Ruhrkampf mit Besetzung des Ruhrgebietes. Zunächst werden Kinder aus dem Ruhrgebiet aufgenommen. In der Chronik wurde vermerkt: Inflation - es war oft ein Rennen und Jagen, um das erhaltene Geld sofort anzulegen. Leider waren die Bemühungen oft vergebens. Nahrung für 23 Kinder mußte beschafft werden. Liebesgabenpakete kamen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Holland und der Schweiz.

Hauptversammlung 1928
Vom 20. März 1923 stammt diese Aufnahme von der Einweihung und Eröffnungsfeier der Kinderheimat eV. Auf dem Bild sind auch die Hauseltern Emmy Voorhoeven und Mimmi Brockhaus zu sehen.

Emanzipation war für Mimi Brockhaus und Emmy Voorhoeve noch ein Fremdwort - sie taten einfach, was sie tun mußten. Im Jahre 1928 beherbergten sie im Kinderheim 15 Dauerkinder. Die Einnahmen der Kinderheimat stammten damals zu 63 Prozent aus freiwilligen Spenden und zu 37 Prozent aus Beiträgen. Über einen Teil des damaligen Tagesablaufs wurde in den Aufzeichnungen von Mimi Brockhaus und Emmy Voorhoeve folgendes festgehalten:

"Jeder findet seinen Becher Milch und sein Brot auf dem Küchentisch und holt es sich nach beendeter Schularbeit. Dann gehen auch jetzt noch, im November, wenn eben möglich, alle zum Spielen hinaus oder die Jungen besorgen kleine Botengänge. Von sieben Jahren an haben alle schon eine bestimmte Arbeit wie Milch holen, Holz aufschichten, Spielschrank aufräumen, den Platz kehren, Schuhe putzen usw. - wofür sie am Samstag, wenn sie ihre Pflicht nicht versäumt haben, etwas für die Sparbüchse erhalten.

Die Abende in der Kinderheimat gestalteten sich wie folgt: Um sechs Uhr essen die Kinder bis neun Jahren zu Abend und kommen dann zu Bett. Mit den Größeren gibt es dann ein gemütliches Abendessen hinterher. Wir haben dann Zeit, ihre Tageserlebnisse anzuhören, können in Ruhe mit ihnen über Wünsche und Fragen sprechen, die im Laufe des Tages aufgetaucht sind."

1934 erfolgt der erste Anbau an das Haus: eine Veranda wird errichtet. Tragisch verläuft ein Unfall beim Schulsport, ein Junge verunglückt tödlich. 1939 sind vier Jungen im Jungvolk, einer im Arbeitsdienst. Zudem notieren die beiden Heimleiterinnen: Vier unserer in Arbeit stehenden Kinder hatten während der Ferien Urlaub, da war es eng im Heim.

Auf Druck der Nationalsozialisten muß Emmy Voorhoeve als Holländerin 1940 aus dem Vorstand ausscheiden. Die geforderte gänzliche Entfernung aus dem Heim konnte verhindert werden.

Im Krieg wurde aus der Veranda eine Schreibstube

Krieg und Kriegsende erlebte man in Oesterau wie folgt: "Unsere Veranda war wochenlang eine Schreibstube, der Luftschutzkeller eine Funkstation, der Garten ein Parkplatz. Als am 12. April 1945 morgens Artilleriefeuer einsetzte, brannte nach kurzer Zeit das Nachbarhaus. Die Kinder waren in einem besser gesicherten Keller, wir zwei Heimmütter wollten das Haus nicht gern im Stich lassen, blieben drei Tage und Nächte im Keller, lagen dort am ersten Abend zwischen amerikanischen Soldaten, die ihre Gewehre nach drei Seiten schußbereit hielten.

1946 wurde ein 14 Tage altes Baby morgens um 6 Uhr anonym in den Hausflur geschoben. Die Mutter konnte erst nach Wochen gefunden werden. 1948 feierte man 25jähriges Bestehen, Schwester Lydia Fleischer vom Mutterhaus Persis in Wuppertal begann ihre Tätigkeit. 1951 wurden 18 Kinder betreut".

Schwestern Lydia und Dorothea Die Schwestern Lydia und Dorothea vom Diakonissenmutterhaus Persis in Wuppertal leiteten das Kinderheim nach dem Krieg.

1955 ziehen die beiden Heimmütter Mimi Brockhaus und Emmy Voorhoeven in eigene Wohnungen um, ab 1957 steht Schwester Dorothea Elsner vom Diakonissen-Mutterhaus Persis der Schwester Lydia zur Seite. 1963 und 1974 wird das Gebäude der Kinderheimat durch Anbauten erweitert. 1978 stirbt Mimmi Brockhaus im gesegneten Alter von 92 Jahren, 1984 beendet Schwester Lydia nach 36 Jahren ihre Tätigkeit.


Freundeskreis zählt 600 Mitglieder

In den 75 Jahren ihres Bestehens hat die Kinderheimat eV in Oesterau erst drei Leiterpaare gehabt. Auf Mimi Brockhaus und ihre Cousine Emmy Voorhoeve, die von 1922 bis 1955 die Kinderheimat leiteten, folgten die Schwestern Lydia und Dorothea.

Als drittes Heimleiterpaar lösen am 1. September 1986 Wolfgang und Irmgard Klemen die ausscheidende Schwester Dorothea ab. 1987 erkennt das Landesjugendamt die Kinderheimat als Kinderhaus an. Die Leistungen werden über einen Pflegesatz abgerechnet. Darin nicht enthalten sind die Kosten für Freizeiten, Ausflüge oder Klassenfahrten soweit sie einen bestimmten Satz übersteigen.

Neben den Hauseltern mit ihren drei Kindern gehören heute die Erzieherin Elke Arndt und die Kinderpflegerin Reinhild Brockhaus zum Kinderhaus-Team. Die sieben Heimkinder im Alter zwischen 8 und 18 Jahren haben alle eigene Zimmer, daneben gibt es noch Spielzimmer, einen Trimmraum, ein Fotolabor sowie ein 3500 Quadratmeter großer Garten mit Plätzen für Streetball und Volleyball.

Hausbewohner sind auch ein Dutzend Hühner, Fische, Meerschweinchen und eine Katze. Alle Kinder bekommen, wenn sie möchten, Musikunterricht für Klavier, Geige, Querflöte, Alt- und Sopranflöte, Akkordeon und Gitarre.

In den 75 Jahren des Bestehens wurden 240 Kinder langfristig betreut. Ein Freundeskreis mit rund 600 Mitgliedern (Ehemalige und Betreuer) hält Kontakt zum Kinderhaus und unterstützt die Kinderheimat eV.

Kinderheimat 1998 Das Haus der Kinderheimat eV in Oesterau im Jubiläumsjahr 1998.


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Lexikon für die Stadt Plettenberg, erstellt durch Horst Hassel,
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