Quelle: Bericht der Geschäftsführerin der Rußland- und Osteuropahilfe, Petra Schülke. (im Archiv HH)

Rußland- und Osteuropahilfe Plettenberg eV

Hilfszugfahrt nach St. Petersburg
vom 12. - 19. September 1992

Fahrer: Dorothea Prein, Josef Ams, Jörg Schülke, Petra Schülke
Autos: 1 Mercedes Benz Lkw 813, 1 Mercedes Benz Lkw 609 - zur Verfügung gestellt von Auto Linnepe und 1 Anhänger von der Firma Brahmekamp Herscheid.
Ladung: 500 kg Milchpulver, Bettzeug, Medikamente, Kleidung, Nähmaschinen und Nähutensilien, Kinderspielzeug, private Hilfspakete.
Ziele: Kinderheim Nr. 9, Kinderheim Nr. 3, Invalidenschule, Altenheim Pushkin.

Am Donnerstag und Freitag gab es eine Menge vorzubereiten. Die Lkw waren abzuholen, die Seniorenresidenz in Lüdenscheid-Oeneking hatte noch einiges an Kleidung gesammelt, das ebenfalls abgeholt werden mußte. Dann galt es, die Lkw so zu beladen, daß das Abladen in St. Petersburg möglichst wenig Zeit in Anspruch in Anspruch nehmen würde, da uns dieses Mal nur 2 Tage zur Verfügung stehen würden. Um das überhaupt schaffen zu können, würden wir uns trennen müssen, ein Wagen würde nach Pushkin hinausfahren, der andere die Ziele in der Innenstadt ansteuern.

Die zur Verfügung gestellten Autos erwiesen sich als so groß, daß wir die Läger sowohl in Neuenrade als auch in Plettenberg-Ohle komplett ausräumen konnten.
Nachdem es am Freitagabend stark geregnet hatte, verlegten wir unsere Abfahrtzeit kurzentschlossen auf 3.30 Uhr am Samstagmorgen vor. Als es dann losging, schien der Nebel unsere Befürchtungen zu bestätigen - doch der Dunst verzog sich, es wurde ein herrlicher Tag.
Nach einer Tank- und Frühstückspause in Vechta gelangten wir auch gegen 12.00 Uhr in Kiel an der Fähre "Anna Karenina" an. Würden wir bei der Einschiffung Probleme bekommen? Schließlich waren nur Lieferwagen angemeldet worden, jetzt handelte es sich um Lkw. Aber wir hatten Glück, das Schiff würde nicht voll werden, man ließ uns ohne Schwierigkeiten hineinfahren.

Um 15.00 Uhr legte die "Anna Karenina" ab, zunächst nahm sie Kurs auf Schweden, wo anbetracht der beendeten Schulferien erstaunlich viele Passagiere an Bord kamen. Sie schienen die Nachsaisonpreise zu nutzen. Die Überfahrt war sehr windstill - ein Glück! Hätte es - wie bei der letzten Fahrt - wegen Sturms wieder Verzögerungen bei der Einfahrt in den Kanal vor St. Petersburg gegeben, wäre uns die Zeit davongelaufen.

Am Montag um 17 Uhr legten wir in St. Petersburg an. Bei der Abfahrt von der Fähre passierte uns ein kleines Malheur. Schwer beladen, wie die Fahrzeuge waren, setzte des Stützrad des Hängers in der Kuhle der Fahrspur auf und zerbrach. Die Zollabfertigung verlief relativ unproblematisch und gegen 18 Uhr war alles erledigt. Auf uns warteten bereits Mischa und Swetlana.
Als Mischa die großen Autos sah, war er einerseits sehr erfreut über die Menge der Hilfsgüter, auf der anderen Seite sah er Probleme: diese Wagen würde er nicht auf dem bewachten Parkplatz unterbringen können, der uns sonst vor Diebstählen bewahrt hatte. Swetlana regte an, sie doch die eine Nacht beim Zoll stehen zu lassen. Gegen eine kleine Aufmerksamkeit (ein paar Dosen Cola und einige Feuerzeuge) wäre das sicherlich möglich!

Gesagt - getan. So verließen wir den Hafen und fuhren zum "Gavan", dem Hotel, von dem Swetlana ihre Reisegruppen bekommt. Hier sei das Restaurant zwar eigentlich heute geschlossen, es finde aber eine private Feier dort statt, so daß die Küche doch besetzt sei und wir dort zu Abend essen könnten, erklärte sie uns. Nach dem Essen und einigen interessanten Gesprächen verließen wir das Hotel, Swetlana verabschiedete sich von uns und wir unternahmen mit Mischa eine kleine Stadtrundfahrt - St. Petersburg bei Nacht.

Erholungsort außerhalb der Stadt
Nach der Übernachtung auf der Fähre ging es am nächsten Morgen los. Zunächst fuhren wir zusammen zum Kinderheim Nr. 9. Dort ließen wir den Anhänger zurück, der ausschließlich Sachen für hier enthielt und den Anatoli, der Leiter des Heimes für 7- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche, und seine Mitarbeiter entladen konnten. Von ihm erfuhren wir, daß die Stadt ein Haus außerhalb des Stadtkerns im Grünen zur Verfügung gestellt hat, das zur Zeit als Erholungsort für die Kinder renoviert wird. Wenn wir einmal auf einer Fahrt mehr Zeit haben, sollten wir uns das ansehen.

Auch das Kinderheim Nr. 3 (kranke Kinder von wenigen Tagen bis 4 Jahren, s. Bericht der letzten Fahrt) steuerten wir noch gemeinsam an, da ich Dorothea gern einige Eindrücke dieses Heims, das mich bei der letzten Fahrt so stark gefesselt hatte, vermitteln wollte. Von der Leiterin erfuhren wir, daß inzwischen das Fundament für einen Neubau erstellt wurde, der in ca. 1 Jahr bezugsfertig sein soll. Es soll das größte Heim seiner Art werden und das erste, das eigens kindgerecht entworfen und gebaut wird. Ein Problem bei der Einrichtung wird die Beschaffung von Kindermöbeln sein. Hierum sollten wir uns kümmern. Hier luden wir nun Milchpulver, Kinderwagen und Spielzeug, Baby-Kleidung und auch einige Säcke Kleidung für die Pflegerinnen ab, die sich so herzlich um ihre kleinen Schützlinge kümmern. Wieder bedankte sich die Leiterin sehr, sehr herzlich und wünschte uns Gottes Segen.

Dann trennten wir uns. Mein Mann und ich fuhren mit Mischa zunächst zur Invalidenschule, die uns auch vom letzten Transport bekannt war. Hierher brachten wir Kleidung, einige Nähmaschinen und Nähutensilien. Sofort wurden wir von Umschülern umringt, die uns eifrig die schweren Säcke abnahmen und in den zur Verfügung gestellten Raum schleppten. Die Verteilung würden wir dieses Mal dem Direktor überlassen, da wieder - wie bei der letzten Fahrt auch - viele Menschen das Entladen begeistert und dankbar für die Hilfe beobachtet hatten und so nichts vertuscht oder heimlich beiseite geschafft werden konnte.

Unser nächstes Ziel war das Krankenhaus der Baltic Line. Hierher kamen Bettzeug, Medikamente, einige Prothesen und auch einiges an Kleidung. Auch hier waren wir schnell von Menschen umringt, die uns liebend gerne halfen, alles abzuladen.
Danach machten wir uns auf den Weg zurück zum Kinderheim Nr. 9, das als Treffpunkt mit den anderen verabredet worden war. Auch sie trafen gleichzeitig mit uns dort ein. Sie waren im Altenheim in Puschkin gewesen. Einige Transporte zuvor waren dort schon einmal Sachen hingeliefert worden, ich selbst konnte mir aber kein Bild von den dort herrschenden Zuständen machen.

Dorothea berichtete, daß dort keineswegs nur alte Menschen untergebracht seien. Tatsächlich sei es ein "Internat für Psycho-Neurologie". Es beherbergt zur Zeit 400 Insassen zwischen 18 und 100 Jahren und außerdem 80 Kinder. Man legt hier großen Wert auf den familiären Rückhalt der Patienten, was eine schnellere Genesung zur Folge hat. Ursachen für die Einweisung sind Alterschwäche, leichte geistige Verwirrtheit oder auch Alkoholismus.

Es gibt fast alles - aber keiner kann es sich leisten
Dieser ist z. Zt. hier weit verbreitet, da die Menschen an den Kommunismus geglaubt haben und nun jedes Ideal und Lebensziel verloren haben. Hinzu kommt die immer prekärer werdende wirtschaftliche Situation. War bis vor nicht all zu langer Zeit gar nichts auf dem Markt zu bekommen, gibt es jetzt fast alles - es kann sich nur kein Mensch mehr leisten (s. Bericht der letzten Fahrt).

Das Heim ist in einem zweistöckigen alten Ziegelsteingebäude untergebracht, das in keinem sehr guten Zustand ist. Die Kosten für die Unterbringung hier belaufen sich auf 300 - 1.000 Rubel, die vom Staat getragen werden. Erschreckend fand ich, daß einige Insassen nur Besuch von ihren Angehörigen erhielten, wenn das Eintreffen von Hilfsgütern bekannt wurde.
Das Personal besteht aus 150 Personen, die in vier Schichten arbeiten; es gibt außerdem drei Ärzte. Geleitet wird das Heim von einer Frau mit Hochschulausbildung. Dringend gebraucht werden hier Rollstühle, Stöcke, Krücken, Medikamente (hauptsächlich Antibiotika, Mittel gegen Herz- und Gefäßerkrankungen, Nieren- und Harnleiterleiden, Gelenkerkrankungen, Schmerzmittel, Asthmamedikamente, Spritzen und Verbandmaterial), außerdem Vitamine, Mineralstoffe und Zucker. Auch hier gibt es Werkstätten für Stricken und Nähen, die dringend Utensilien wie Wolle und Stoffe benötigen. Kleidung wird weniger benötigt, da die meisten der Insassen bettlägerig sind. Auch hier war der Dank sehr herzlich und rührend. Eine Einladung zum Essen durfte unter diesen Umständen keinesfalls abgelehnt werden; die Leute haben so wenig und wollen sich so gern ein wenig erkenntlich zeigen.

Zurück in Nr. 9 gab es noch einmal Essen. Hier ließen wir einen Lkw zurück. Anatolij versicherte uns, hier sei er vor Dieben geschützt. Auch mit vielen Überredungsversuchen hatte ich es nicht geschafft, daß wir die leeren Wagen bereits wieder auf die Fähre fahren konnten. Der Deckoffizier habe Urlaub, hieß es, außerdem bestehe während der Liegezeit keine Zollabfertigung der Kfz.

Dann fuhren wir kurz zum Markt, um einerseits einiges für die Rückfahrt zu besorgen und uns andererseits die Preisentwicklung seit unserem letzten Besuch anzusehen. Daraus wurde jedoch nichts. Kaum hatte man uns als Ausländer identifiziert, waren an den langen Marktstandreihen keine Preisschilder mehr zu entdecken, weder für Obst noch für Gemüse. Der in der Sonne verdorbene Fisch, der ebenfalls angeboten wurde, fand hoffentlich sowieso keinen Abnehmer, er stellte eine Gefahr für Keib und Leben dar. So konnte uns allein der Umtauschkurs DM/Rubel als Anhaltspunkt dienen. Stand er im Juni noch 1:75 bis 1:80 so war es jetzt schon 1:130.

Nachdem wir uns dann auf der "Anna Karenina" kurz frisch gemacht hatten, holten uns Mischa und seine Frau Alia auch schon zu der Einladung ab, die Swetlana für diesen Abend ausgesprochen hatte. Schon wieder essen! Dabei war alles sehr lecker, und Swetlana hatte sich alle Mühe gegeben. Auch unseren Durst konnten wir stillen. Durst hat man in dieser Stadt eigentlich immer, besonders, wenn man viel mit dem Auto unterwegs ist. Dafür sorgt schon die verschmutzte Luft auf den Straßen.

Gesprochen wurde dann auch über die Suppenküche, die wir mit dem ASB (Arbeiter-Samariter-Bund) Hamburg betreiben wollen. Das Haus, das die Stadt zur Verfügung gestellt hatte, und das wir renovieren wollten, war ja in den letzten Tagen verkauft worden. Swetlana sprach aber schon von einer neuen Möglichkeit: In Mischas Gegend gebe es eine Kantine für ca. 160 Personen, komplett eingerichtet, die nur aufgrund von Lebensmittelmangel ihre Arbeit eingestellt habe. Sie würde hierzu nähere Informationen beschaffen. Auch Swetlanas Mann Wladimir und ihre Tochter waren anwesend. Gemeinsam gaben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, daß in näherer Zukunft alles besser werden würde. - Nun, hoffentlich haben sie recht.

Später brachen wir dann zu Mischa auf. In dem Lkw, den wir bei uns hatten, befanden sich noch Privatpakete, die er verteilen sollte. Viel zu schnell verging der Abend, und nachdem Mischa uns noch seine Gitarre vorgeführt hatte, die er bei seinem Besuch in Plettenberg erworben hatte, wurde es auch schon Zeit für die Rückfahrt zur Fähre. Für den nächsten Tag hatten wir einen Besuch der Ermitage und des Künstlermarktes geplant. - Doch es sollte anders kommen.

Am nächsten Morgen war nämlich der Lkw aufgebrochen, d. h. das kleine Seitenfenster aufgehebelt, einige persönliche Dinge verschwunden. Also mussten wir erst zur Polizei, um einen Beleg für die Versicherung zu bekommen. Dann brachte Mischa wenigstens Dorothea und Josef zur Ermitage, wo Vera bereits auf sie wartete. Er und Jörg holten das andere Auto vom Kinderheim Nr. 9, um schon einmal alles für die Auffahrt auf die Fähre zu klären. Danach wollten wir uns mit den anderen in einem Restaurant nahe der Isaak-Kathedrale treffen, um diese dann gemeinsam zu besichtigen. Doch welch ein Pech, die St. Isaak-Kathedrale war mittwochs geschlossen! So bummelten wir noch ein wenig durch die Stadt, bevor sich Vera von uns verabschiedete und wir zur Fähre zurück fuhren.

Einmal ohne Probleme mit dem Zoll mitsamt der Lkw an Bord, wollte man uns nicht mehr gehen lassen. Nur mit viel Mühe und mit der Hilfe des Persers der "Anna Karenina", Alexander, erhielten wir unsere Pässe zurück und konnten das Schiff noch einmal verlassen, um uns wenigstens noch von Mischa und Swetlana, die uns hier im Hafen noch treffen wollten, zu verabschieden. Viel, viel zu schnell verging die Zeit! Zwei Tage sind viel zu wenig für diese Stadt und diese Menschen!

Auf der Rückfahrt war es etwas windiger als auf der Hintour, doch wen kümmerte das jetzt schon! Ansonsten verlief alles ohne Probleme - im Gegensatz zur letzten Fahrt im Juni! Am Freitag nachmittag legten wir wieder in Kiel an. Hatte der russische Zoll uns problemlos an Bord gelassen, glaubte nun der deutsche Zoll, Schwierigkeiten machen zu müssen. Wir mussten alle Päckchen öffnen, die wir noch zur Übergabe an Plettenberger Familien erhalten hatten und doch tatsächlich Zoll bezahlen.
Weiter ging es Richtung Plettenberg, wo wir auch gegen 3.30 Uhr ankamen.

Schülke, September 1992