Quelle: Bericht der Geschäftsführerin der Rußland- und Osteuropahilfe, Petra Schülke. (im Archiv HH)
Rußland- und Osteuropahilfe Plettenberg eV
Hilfszugfahrt nach St. Petersburg
Fahrer: Dorothea Prein, Josef Ams, Jörg Schülke, Petra Schülke
Am Donnerstag und Freitag gab es eine Menge vorzubereiten. Die Lkw waren abzuholen,
die Seniorenresidenz in Lüdenscheid-Oeneking hatte noch einiges an Kleidung gesammelt,
das ebenfalls abgeholt werden mußte. Dann galt es, die Lkw so zu beladen, daß das
Abladen in St. Petersburg möglichst wenig Zeit in Anspruch in Anspruch nehmen würde,
da uns dieses Mal nur 2 Tage zur Verfügung stehen würden. Um das überhaupt schaffen
zu können, würden wir uns trennen müssen, ein Wagen würde nach Pushkin hinausfahren,
der andere die Ziele in der Innenstadt ansteuern.
Die zur Verfügung gestellten Autos erwiesen sich als so groß, daß wir die Läger sowohl in
Neuenrade als auch in Plettenberg-Ohle komplett ausräumen konnten.
Um 15.00 Uhr legte die "Anna Karenina" ab, zunächst nahm sie Kurs auf Schweden, wo
anbetracht der beendeten Schulferien erstaunlich viele Passagiere an Bord kamen. Sie
schienen die Nachsaisonpreise zu nutzen.
Die Überfahrt war sehr windstill - ein Glück! Hätte es - wie bei der letzten Fahrt - wegen
Sturms wieder Verzögerungen bei der Einfahrt in den Kanal vor St. Petersburg gegeben,
wäre uns die Zeit davongelaufen.
Am Montag um 17 Uhr legten wir in St. Petersburg an. Bei der Abfahrt von der Fähre passierte
uns ein kleines Malheur. Schwer beladen, wie die Fahrzeuge waren, setzte des Stützrad des
Hängers in der Kuhle der Fahrspur auf und zerbrach. Die Zollabfertigung verlief relativ unproblematisch
und gegen 18 Uhr war alles erledigt. Auf uns warteten bereits Mischa und Swetlana.
Gesagt - getan. So verließen wir den Hafen und fuhren zum "Gavan", dem Hotel, von dem Swetlana
ihre Reisegruppen bekommt. Hier sei das Restaurant zwar eigentlich heute geschlossen, es finde
aber eine private Feier dort statt, so daß die Küche doch besetzt sei und wir dort zu Abend essen
könnten, erklärte sie uns.
Nach dem Essen und einigen interessanten Gesprächen verließen wir das Hotel, Swetlana verabschiedete
sich von uns und wir unternahmen mit Mischa eine kleine Stadtrundfahrt - St. Petersburg bei Nacht.
Erholungsort außerhalb der Stadt
Auch das Kinderheim Nr. 3 (kranke Kinder von wenigen Tagen bis 4 Jahren, s. Bericht der letzten Fahrt)
steuerten wir noch gemeinsam an, da ich Dorothea gern einige Eindrücke dieses Heims, das mich bei
der letzten Fahrt so stark gefesselt hatte, vermitteln wollte. Von der Leiterin erfuhren wir, daß inzwischen
das Fundament für einen Neubau erstellt wurde, der in ca. 1 Jahr bezugsfertig sein soll. Es soll das größte
Heim seiner Art werden und das erste, das eigens kindgerecht entworfen und gebaut wird. Ein Problem
bei der Einrichtung wird die Beschaffung von Kindermöbeln sein. Hierum sollten wir uns kümmern. Hier
luden wir nun Milchpulver, Kinderwagen und Spielzeug, Baby-Kleidung und auch einige Säcke Kleidung
für die Pflegerinnen ab, die sich so herzlich um ihre kleinen Schützlinge kümmern. Wieder bedankte sich
die Leiterin sehr, sehr herzlich und wünschte uns Gottes Segen.
Dann trennten wir uns. Mein Mann und ich fuhren mit Mischa zunächst zur Invalidenschule, die uns auch
vom letzten Transport bekannt war. Hierher brachten wir Kleidung, einige Nähmaschinen und Nähutensilien.
Sofort wurden wir von Umschülern umringt, die uns eifrig die schweren Säcke abnahmen und in den zur
Verfügung gestellten Raum schleppten. Die Verteilung würden wir dieses Mal dem Direktor überlassen,
da wieder - wie bei der letzten Fahrt auch - viele Menschen das Entladen begeistert und dankbar für die
Hilfe beobachtet hatten und so nichts vertuscht oder heimlich beiseite geschafft werden konnte.
Unser nächstes Ziel war das Krankenhaus der Baltic Line. Hierher kamen Bettzeug, Medikamente, einige
Prothesen und auch einiges an Kleidung. Auch hier waren wir schnell von Menschen umringt, die uns
liebend gerne halfen, alles abzuladen.
Dorothea berichtete, daß dort keineswegs nur alte Menschen untergebracht seien. Tatsächlich sei es ein
"Internat für Psycho-Neurologie". Es beherbergt zur Zeit 400 Insassen zwischen 18 und 100 Jahren und
außerdem 80 Kinder. Man legt hier großen Wert auf den familiären Rückhalt der Patienten, was eine
schnellere Genesung zur Folge hat. Ursachen für die Einweisung sind Alterschwäche, leichte geistige
Verwirrtheit oder auch Alkoholismus.
Es gibt fast alles - aber keiner kann es sich leisten
Das Heim ist in einem zweistöckigen alten Ziegelsteingebäude untergebracht, das in keinem sehr guten
Zustand ist. Die Kosten für die Unterbringung hier belaufen sich auf 300 - 1.000 Rubel, die vom Staat
getragen werden. Erschreckend fand ich, daß einige Insassen nur Besuch von ihren Angehörigen erhielten,
wenn das Eintreffen von Hilfsgütern bekannt wurde.
Zurück in Nr. 9 gab es noch einmal Essen. Hier ließen wir einen Lkw zurück. Anatolij versicherte uns, hier
sei er vor Dieben geschützt. Auch mit vielen Überredungsversuchen hatte ich es nicht geschafft, daß wir
die leeren Wagen bereits wieder auf die Fähre fahren konnten. Der Deckoffizier habe Urlaub, hieß es,
außerdem bestehe während der Liegezeit keine Zollabfertigung der Kfz.
Dann fuhren wir kurz zum Markt, um einerseits einiges für die Rückfahrt zu besorgen und uns andererseits
die Preisentwicklung seit unserem letzten Besuch anzusehen. Daraus wurde jedoch nichts. Kaum hatte
man uns als Ausländer identifiziert, waren an den langen Marktstandreihen keine Preisschilder mehr zu
entdecken, weder für Obst noch für Gemüse. Der in der Sonne verdorbene Fisch, der ebenfalls angeboten
wurde, fand hoffentlich sowieso keinen Abnehmer, er stellte eine Gefahr für Keib und Leben dar. So
konnte uns allein der Umtauschkurs DM/Rubel als Anhaltspunkt dienen. Stand er im Juni noch 1:75 bis
1:80 so war es jetzt schon 1:130.
Nachdem wir uns dann auf der "Anna Karenina" kurz frisch gemacht hatten, holten uns Mischa und seine
Frau Alia auch schon zu der Einladung ab, die Swetlana für diesen Abend ausgesprochen hatte. Schon
wieder essen! Dabei war alles sehr lecker, und Swetlana hatte sich alle Mühe gegeben. Auch unseren
Durst konnten wir stillen. Durst hat man in dieser Stadt eigentlich immer, besonders, wenn man viel mit dem
Auto unterwegs ist. Dafür sorgt schon die verschmutzte Luft auf den Straßen.
Gesprochen wurde dann auch über die Suppenküche, die wir mit dem ASB (Arbeiter-Samariter-Bund)
Hamburg betreiben wollen. Das Haus, das die Stadt zur Verfügung gestellt hatte, und das wir renovieren
wollten, war ja in den letzten Tagen verkauft worden. Swetlana sprach aber schon von einer neuen
Möglichkeit: In Mischas Gegend gebe es eine Kantine für ca. 160 Personen, komplett eingerichtet, die
nur aufgrund von Lebensmittelmangel ihre Arbeit eingestellt habe. Sie würde hierzu nähere Informationen
beschaffen. Auch Swetlanas Mann Wladimir und ihre Tochter waren anwesend. Gemeinsam gaben sie
ihrer Hoffnung Ausdruck, daß in näherer Zukunft alles besser werden würde. - Nun, hoffentlich haben sie
recht.
Später brachen wir dann zu Mischa auf. In dem Lkw, den wir bei uns hatten, befanden sich noch Privatpakete,
die er verteilen sollte. Viel zu schnell verging der Abend, und nachdem Mischa uns noch seine Gitarre
vorgeführt hatte, die er bei seinem Besuch in Plettenberg erworben hatte, wurde es auch schon Zeit für die
Rückfahrt zur Fähre. Für den nächsten Tag hatten wir einen Besuch der Ermitage und des Künstlermarktes
geplant. - Doch es sollte anders kommen.
Am nächsten Morgen war nämlich der Lkw aufgebrochen, d. h. das kleine Seitenfenster aufgehebelt, einige
persönliche Dinge verschwunden. Also mussten wir erst zur Polizei, um einen Beleg für die Versicherung zu
bekommen. Dann brachte Mischa wenigstens Dorothea und Josef zur Ermitage, wo Vera bereits auf sie
wartete. Er und Jörg holten das andere Auto vom Kinderheim Nr. 9, um schon einmal alles für die Auffahrt
auf die Fähre zu klären. Danach wollten wir uns mit den anderen in einem Restaurant nahe der Isaak-Kathedrale
treffen, um diese dann gemeinsam zu besichtigen. Doch welch ein Pech, die St. Isaak-Kathedrale war
mittwochs geschlossen! So bummelten wir noch ein wenig durch die Stadt, bevor sich Vera von uns
verabschiedete und wir zur Fähre zurück fuhren.
Einmal ohne Probleme mit dem Zoll mitsamt der Lkw an Bord, wollte man uns nicht mehr gehen lassen. Nur
mit viel Mühe und mit der Hilfe des Persers der "Anna Karenina", Alexander, erhielten wir unsere Pässe
zurück und konnten das Schiff noch einmal verlassen, um uns wenigstens noch von Mischa und Swetlana,
die uns hier im Hafen noch treffen wollten, zu verabschieden. Viel, viel zu schnell verging die Zeit! Zwei Tage
sind viel zu wenig für diese Stadt und diese Menschen!
Auf der Rückfahrt war es etwas windiger als auf der Hintour, doch wen kümmerte das jetzt schon! Ansonsten
verlief alles ohne Probleme - im Gegensatz zur letzten Fahrt im Juni! Am Freitag nachmittag legten wir wieder
in Kiel an. Hatte der russische Zoll uns problemlos an Bord gelassen, glaubte nun der deutsche Zoll, Schwierigkeiten
machen zu müssen. Wir mussten alle Päckchen öffnen, die wir noch zur Übergabe an Plettenberger
Familien erhalten hatten und doch tatsächlich Zoll bezahlen.
Schülke, September 1992 |