Quelle: Süderländer Tageblatt vom 26.01.2008
Letzte Grüße aus Auschwitz:
PLETTENBERG Für die Familie Lennhoff scheint die Welt in den 20-er Jahren in Ordnung:
Vater Julius, ein geborener Plettenberger, ist Metzgermeister an der Steinbrinkstraße; im
ersten Weltkrieg verwundet, hat er ein Bein verloren und ist für seine Tapferkeit ausgezeichnet
worden. Mutter Bertha (geb. Hony) aus Netphen entstammt einer Metzgerfamilie. Am 19. September
1921 bringt sie den gemeinsamen Sohn Heinz zur Welt. Dieser wird später das Gymnasium besuchen.
Sein Traum: Er möchte Medizin studieren. Dieser Wunsch wird sich jedoch nicht erfüllen.
Die Plettenberger Familie ist jüdischen Glaubens – bald muss Heinz aufgrund des Drucks der
Nationalsozialisten, die 1933 die Macht ergriffen haben, die Schule verlassen. Für ihn und seine
Familie wird es allerdings noch viel schlimmer kommen. Die Geschichte der Familie Lennhoff aus der
Steinbrinkstraße ist eine tragische, die für das Schicksal vieler deutscher Juden steht, die unter
dem menschenverachtenden System des Dritten Reichs litten – ihr Weg wird in den Vernichtungslagern
der Nazis enden. Das können die Lennhoffs allerdings in Plettenberg noch nicht absehen.
Unter Repressalien hat die Familie aber auch in ihrer Heimatstadt schon zu leiden: Auf Geheiß
der örtlichen Nazis wird die Metzgerei der Lennhoffs boykottiert, die Kundschaft am Betreten
gehindert. Schließlich ist Julius Lennhoff gezwungen, Geschäft und Grundstück am 6. Januar 1939
zu verkaufen. Der Erlös liegt auf einem Sperrkonto bei der Sparkasse, nur über einen geringen
Teil kann er monatlich verfügen.
Bereits ein Jahr zuvor war Heinz im Nachgang der Reichskristallnacht, wie fast alle anderen
Juden, vorübergehend verhaftet worden. Zu allem Unglück wird nach Aufgabe des Geschäfts auch
noch ein fremdes Ehepaar – die Eheleute Leo Hesse, wie eine erhaltene Anordnung Auskunft gibt –
in Lennhoffs Wohnung einquartiert. Das Leben auf beengtem Raum mit Fremden macht der Familie
Lennhoff zu schaffen. Ein Jahr später suchen sie Zuflucht bei Berthas Schwester Klara mit Ehemann
Gustav Faber in Netphen. Julius Lennhoff und Schwager Gustav Faber haben viele Gemeinsamkeiten:
Im selben Jahr geboren, Weltkriegsteilnehmer, beinamputiert, Metzger, mit den Schwestern Hony
aus Netphen verheiratet, jeweils Vater eines Kindes, wohnen sie, beide ohne Geschäft und Arbeit,
ihr Vermögen auf der Bank gesperrt, zusammen in Netphen.
Die Tochter der Fabers, Anita, ist seit kurzem in Köln im Israelitischen Kinderheim, Heinz Lennhoff
lebt in ihrem Zimmer und schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter durch – und verliebt sich in die
18-jährige Kinderkrankenschwester Inge Frank aus Weidenau, die er über seine Cousine Anita kennenlernt.
In jeder freien Minute besucht er das etwa gleichaltrige Mädchen, so berichtet Wilhelm Fries, der mit
Gattin Ruth und seinen Kindern im gleichen Haus wie die Franks lebt und ihnen sowie auch der Familie
Lennhoff bis zum Schluss verbunden bleibt.
Die Eltern von Inge bemühen sich derweil um Auswanderung – vergeblich. Bald schon erhalten Franks
den Befehl zur Deportation. Ruth und Wilhelm Fries feiern noch wenige Tage vor dem Abtransport,
am 17. April 1942, gemeinsam mit der befreundeten Familie den 52. Geburtstag von Klara Frank. Am
Vorabend der Deportation – am 27. April – sieht Heinz seine Inge zum letzten Mal in seinem Leben.
Sie verloben sich. Ruht Fries berichtet: "Inge hat sich ja noch verlobt an dem Abend vorher, mit
Heinz Lennhoff aus Netphen, früher wohnhaft in Plettenberg, dem einzigen Sohn von Julius Lennhoff
und Bertha Lennhoff. Heinz Lennhoff blieb hier – er wollte freiwillig mit, aber es wurde nicht
erlaubt. Er besuchte uns dann recht oft und hing besonders an meinem Mann." Ein Jahr zuvor war
Familie Fries nach Siegen umgezogen. Am 28. April 1942 übergibt Samuel Frank unter Tränen die
Aussteuer von seiner Tochter Inge an Wilhelm Fries. Offensichtlich hofft er, obwohl er sich bei
der "Aussiedlung" nichts vormacht, dass Inge noch einmal zurückkehren kann.
Um 10.20 Uhr werden er und seine Familie mit einem Zug vom Gleis 4 des Siegener Hauptbahnhofes
nach Dortmund abtransportiert. Es ist der erste von insgesamt vier Transporten jüdischer Männer,
Frauen und Kinder, die den Bahnhof verlassen. Den Lennhoffs bleibt noch eine "Galgenfrist".
Als tüchtigen Schweißer wird Heinz zunächst noch in der Industrie gebraucht, vermutet ein Zeitzeuge.
Am 27. Juli werden auch Gustav, Klara und Anita Faber deportiert. So bleiben die Lennhoffs
allein in Netphen zurück und leben sehr zurückgezogen. Sohn Heinz hält die Verbindung zur
Außenwelt. Er hofft, seine Verlobte Inge einmal wiederzusehen. Sein Onkel Max Sternberg und
Frau Emmi sowie deren drei Kinder sind inzwischen von Kamen deportiert worden. Wohin, das
ist bis heute unbekannt.
Während der Zeit der Isolation bleibt Heinz Lennhoff weiter in Kontakt mit dem Ehepaar Fries
in Siegen, das viele Jahre bei Familie Frank im Haus in Weidenau gewohnt hat. Er und ein Freund
besuchen Fried häufig bevor sie einen Ausflug unternehmen – und lassen sich von Ruth Fries den
gelben Stern abtrennen und abends nach ihrer Rückkehr wieder annähen. Mehrfach berichtet Heinz,
dass er Post von Inge Frank aus Zamosc bekommen hat, die dort wohl zunächst in einem
Pferdelazarett später in einem Steinbruch arbeitet. Eine Postkarte hatte Inge aus dem Zug
geworfen – irgendjemand muss sie weiterbefördert haben. Heinz Lennhoff versucht ihr Geld
zukommen zu lassen. "Es ist jedoch unmöglich", schreibt er an Wilhelm Fries. Die letzte
Nachricht von Inge an das Ehepaar Fries datiert vom Januar 1943 aus Thomasdorf (heute
Tomaszow). Im März 1943 werden die jüdischen Frauen vermutlich von einem Wehrmachtskommando
mit unbekanntem Ziel abtransportiert, wie ein Zeitzeuge berichtet. Inge Frank wird nie
wieder gesehen.
Dann wird Heinz Lennhoff von der Polizei nach Dortmund verschleppt. Wilhelm Fries berichtet:
"Am 26. Februar 1943 erschien Frau Lennhoff total aufgelöst in meiner Wohnung und erklärte,
dass ihr Sohn Heinz bereits am Tag vorher (freitags) von der Polizei geholt und nach Dortmund
geschafft worden sei. Sie und die Familie Winter müssten am Sonntag, um 10.00 Uhr, am Bahnhof
in Siegen sein, von wo aus sie ebenfalls nach Dortmund transportiert würden. Ich fuhr abends
nach Netphen, wo ich geholfen habe und nahm den Koffer für Heinz Lennhoff mit nach Siegen.
Er war äußerst schwer und trug die gelbe Aufschrift: »Heinz Israel Lennhoff«. Es war das
reinste Spießrutenlaufen, weil alle nach der Aufschrift des Koffers guckten. Auf dem Bahnsteig
war unter anderen das Ehepaar Lennhoff. Sie boten ein Bild des Jammers. Es war für sie die
Fahrt in den Tod. Ob sie es wussten oder ahnten, ich weiß es nicht."
Fries gerät mit einem Bahnbeamten in Streit, der ihm vorwirft, diesen Menschen zu helfen.
Tags darauf erhält Wilhelm Fries "Besuch" von der Gestapo, die ihn schon lange beobachtet hat.
Heinz wird nach Auschwitz deportiert, seine Eltern nach Zamosc. Vorher treffen sie sich noch
einmal in Dortmund, wie Hans Frankenthal aus Schmallenberg berichtet, der als Häftling Auschwitz
überlebt. "Wir wurden in Güterwaggons verladen. Ich schätze, dass so 40 bis 50 Leute in einem
Waggon waren." Und Werner Jakob aus Lenhausen erzählt: "Während der gesamten Fahrt gab es
weder Essen noch Trinken. Toiletten hatten wir nicht."
In Birkenau sieht er Heinz Lennhoff zum letzten Mal, wie er dicht gedrängt mit anderen Juden
auf einem Lkw steht. Der Ruf "Raus, raus, Ihr Judenschweine" erschallt bei der Ankunft in
Auschwitz. Dort selektieren SS-Ärzte und Offiziere die mehr als 1 000 Häftlinge in
arbeitsfähige und nicht-arbeitsfähige. Zu den Menschen, die sofort in den Gaskammern ermordet
werden, weil sie für die Zwangsarbeit zu alt sind, gehören Julius und Bertha Lennhoff.
Von Jawischowitz schreibt Heinz noch mehrfach Postkarten an Wilhelm Fries. Er berichtet
zunächst, dass er dort im Tiefbau tätig ist und dass es ihm gut geht. Kurz vor dem Angriff
der Alliierten auf Siegen am 16. Dezember 1944 trifft die letzte Karte ein – die Sätze des
sonst schreibgewandten 22-Jährigen sind nur noch Fragmente. "Es hat uns in der Seele leid
getan, dass wir nicht mehr antworten konnten", berichtet Ruth Fries. Aufgrund von massivem
Druck und unverhüllten Drohungen über Monate hinweg traut das Ehepaar sich nicht mehr, die
Karten zu beantworten, die Heinz aus dem KZ an Wilhelm schickt. Allein Empfänger der Karten
zu sein, beschert ihnen Hausdurchsuchungen und Verhöre bei der Gestapo.
Bei einem Verhör wird Wilhelm deutlich gemacht, dass er selbst in einem Lager enden wird,
falls er weiter auf Briefe antwortet. Bei einem Waldspaziergang 1943 lässt ein Gestapo-Mann
Fries eine finale Warnung zukommen. "Halten Sie sich zurück, bei nächster Gelegenheit werden
Sie verhaftet!" Er stellt die Kontakte schweren Herzens ein. Vermutlich ist Heinz Lennhoff
noch im Dezember 1944 im von der IG-Farben betriebenen Konzentrationslager Auschwitz
verhungert. Die Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 durch russische Truppen scheint
er nicht mehr erlebt zu haben. Auch Familie Faber ist dort ums Leben gekommen. Wann und wo die Eltern von Inge Frank ermordet wurden, ist bis zum heutigen Tage unbekannt. jmt
|