Wer bekommt das Geld?
Nach über einem Jahr zäher Verhandlungen hat der Bundestag gestern das Gesetz zur Zwangsarbeiterentschädigung verabschiedet. Damit verbindet sich die Hoffnung, ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten. Doch die Regelung lässt vier entscheidende Fragen offen Von Guido Heinen In den ersten Monaten dieses Jahres musste selbst Otto Graf Lambsdorff, der gewiefte Verhandlungsführer bei den Zwangsarbeiter-Gesprächen, des öfteren auf Autosuggestion zurückgreifen: "Wir sind zum Erfolg verurteilt", sagte er sich und allen Neugierigen ein um das andere Mal, wenn wieder eine der endlosen Verhandlungsrunden in Berlin oder Washington vertagt worden war, wenn profilsüchtige Anwälte und bedenkenschwere Politiker ihr Sperrfeuer aus Privatmeinungen und Agitation eröffneten. "Das Ganze hing oft am seidenen Faden", resümierte Lambsdorff gestern - und man konnte hören, wie erleichtert er ausatmete. Der Hindernisparcours der bisher schwersten außenpolitischen Verhandlungen der rot-grünen Bundesregierung über insgesamt fast 16 Monate durchlief zwei Etappen: Zuerst ging es um Summen, dann um die Aufteilung der Gelder. Beteiligte haben da nicht nur gute Erinnerungen: "Dieses Geschachere war unerträglich - am Ende ging es besonders den amerikanischen Opferanwälten doch nur noch um symbolisch hohe Beträge und ihre Provisionen", berichtet ein Fachmann aus dem Justizministerium. Zu Beginn dieses Jahres, nachdem die Gesamtsumme von zehn Milliarden Mark feststand, brach dann der Verteilungskampf zwischen den Begünstigten aus. Zuweilen sprachlos musste die deutsche Delegation mit ansehen, wie immer neue Allianzen von Opfergruppen, Staatenvertretern und Interessenverbänden nahezu wöchentlich neue Bedingungen entwarfen und Kriterien aufstellten, um ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu ergattern. Und jetzt, alles geregelt? "Wer sich nun zurücklehnt und glaubt, alles sei gelaufen, irrt sich", ist Wolfgang Bosbach, Rechtsexperte der Unionsfraktion, überzeugt. Wie er warnen auch viele andere Delegationsmitglieder und Experten aus den Ministerien davor, die Mühen der Ebene zu unterschätzen - denn noch immer bleiben offene Fragen: 1. Wer bekommt das Geld? Vor der eigentlich nächstliegendsten Frage, wie viele überlebende Anspruchsberechtigte es überhaupt noch gibt, hat man sich während der Verhandlungen geschickt gedrückt. Zwar definiert das deutsche Gesetz, das die Grundlage für die Gelder ausschüttende Stiftung ist, die drei Gruppen der Empfänger eindeutig: KZ-Insassen und Getto-Häftlinge, die zur Arbeit gezwungen wurden, Deportierte, die in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten, und Menschen, die als rassisch Verfolgte Vermögen verloren. Aber keiner der Beteiligten - weder die Bundesregierung noch die deutsche Wirtschaft und schon gar nicht die mit der Verteilung beauftragten Partnerorganisationen - kann bis heute detaillierte, belegte Angaben über die Zahl der möglichen Empfänger machen. Zwar wurde gleich zu Beginn der Jenaer Historiker Lutz Niethammer damit betraut, die Opferzahlen zu ermitteln. Eine zynisch anmutende Aufgabe - aber angesichts der zu verteilenden Milliardenbeträge, die zum Großteil Steuergelder sind, unabdingbar. Pikant ist jedoch, dass die Bundesregierung sich weigert, Niethammers Berechnungen herauszugeben, da sie laut Bundesjustizministerium "vom Bundeskanzler nicht zur Veröffentlichung freigegeben worden sind". Der WELT liegt jedoch der Beitrag Niethammers vor dem Innenausschuss des Bundestages vor. Darin geht der Wissenschaftler bei insgesamt rund 1,2 Millionen Berechtigten von insgesamt rund 242 500 KZ- und Sklavenarbeitern ("Kategorie A") und knapp 780 000 deportierten und verschleppten Zwangsarbeitern ("Kategorie B") aus. Inzwischen aber werden immer stärkere Zweifel zumindest an den von der Jewish Claims Conference (JCC) vorgelegten Zahlen über angebliche jüdische überlebende KZ-Zwangsarbeiter laut. Wenngleich es für sie keinen eigenen Ansatz in dem Etat gibt - sie werden als KZ-Häftlinge wie alle anderen auch behandelt -, stellen sie auf Grund der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten einen hohen Anteil. Ihnen stehen pro Kopf einmalig bis zu 15 000 Mark zu. Nun ist die Zahl der überlebenden jüdischen Opfer seit Jahren stark umstritten. Der Streit geht um die Zahl der im Frühjahr 1945 noch lebenden KZ-Sklavenarbeiter: waren es 100 000, wie viele Historiker und Genozidforscher behaupten? Beispielsweise geht Gunnar Heinsohn, Völkermord-Experte der Universität Bremen, davon aus, dass im Mai 1945 insgesamt 60 000 Juden befreit wurden. Er geht davon aus, dass davon bis heute etwa 25 000 jüdische Ex-Zwangsarbeiter überlebt haben. Die JCC verhandelte jedoch mit einer Gesamtzahl von 110 000 heute noch lebenden jüdischen Sklavenarbeitern, sprach zeitweilig auch mal von "circa 135 000". Sie beanspruchte, deren Interessen zu vertreten und forderte so einen Betrag von über 1,7 Milliarden Mark ein. Schwankungen von bis zu 450 Prozent bei den Opferzahlen sind wohl das, was ein Mitglied der deutschen Delegation unter der Hand "die Verhandlungsmasse für einen Kompromiss" nennt. 2.Was würde mit einer möglichen Differenz, also mit jenen Geldern passieren, die nicht an Überlebende ausgezahlt werden können? Das Gesetz sieht vor, dass nur abschlagsweise ausgezahlt wird und überzählige Gelder allein vom Kuratorium der Stiftung verwendet werden - Ausnahme: die KZ-Sklavenarbeiter. Sollten hier "Überschüsse" auflaufen, fließen sie ohne Kontrolle voll und ganz an die JCC - "für soziale Zwecke". 3. Woher kommt das Geld? Bei aller Freude über das nahe Ende des langwierigen Prozesses: Das nötige Geld ist noch nicht gesammelt. So ist sich die Bundesregierung noch längst nicht mit den Ländern darüber einig, wie genau die zugesagten fünf Milliarden an dem Stiftungsvermögen finanziert werden sollen. Von den Steuerausfällen in Höhe von 2,5 Milliarden Mark, die aus der Absetzbarkeit der Zahlungen der Wirtschaft an die Stiftung resultieren und den Staatsanteil auf faktisch 7,5 Milliarden Mark hochschrauben, ganz zu schweigen. Der unsicherste Posten sind allerdings die fünf von der Wirtschaft zugesicherten, keineswegs aber vollständig zugesagten Milliarden. Dieser feine Unterschied zwischen Ankündigung durch Funktionäre und Verbandspräsidenten und der Erfüllung dringender Appelle droht für die Stiftungsinitiative der Wirtschaft zum massiven Problem zu werden: "Der Ball liegt jetzt bei uns", weiß auch Wolfgang Gibowski, Sprecher der Initiative. 2900 Unternehmen sind schon dabei, mit insgesamt 3,1 Milliarden Mark, 200 000 sollen noch mitmachen. Das hört sich Erfolg versprechend an - wenn unter denen, die zugesagt haben, nicht nur schon fast alle umsatzstarken Branchengrößen wären und auf den "to do"-Listen der Industrie- und Handelskammern nicht nur noch der Mittelstand und Handwerksbetriebe zu finden wären. In ihrer verzweifelten Suche nach den noch fehlenden 1,9 Milliarden Mark greifen jetzt sogar schon die Vorstandschefs der größten Konzerne höchstpersönlich zum Hörer und telefonieren die zögernden Branchenpartner einzeln ab. 4.Wie sicher sind deutsche Unternehmen vor weiteren Sammelklagen? "Es war bei den Verhandlungen nicht mehr erreichbar", formuliert es Wolfgang Bosbach. Für ihn ist ausreichend, dass die Justitiare der Wirtschaft signalisiert haben, dass ihnen die Regelung, die im Wesentlichen auf Absichtserklärungen beruht, ausreicht. Seine Fraktionskollegin Sylvia Bonitz hatte Bedenken, weil in den Verhandlungen "keine wirklich verbindliche Zusage erreicht wurde, dass keine weiteren Forderungen an die deutsche Wirtschaft gestellt werden." Ihre Kritik könnte schon bald Realität werden. Denn es soll zwar erst dann Geld fließen, wenn der Bundestag die Rechtssicherheit festgestellt hat. Aber Ed Fagan, der wortgewaltige US-Opferanwalt, hat nach einem Blick in das gestern verabschiedete Stiftungsgesetz seinen Mandanten bereits geraten, es abzulehnen - und stattdessen weitere deutsche Firmen zu verklagen. EKD stellt zehn Millionen Mark Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will in den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter zehn Millionen Mark einzahlen. Entsprechende Beratungen hat es bereits Ende vergangener Woche auf der Tagung der Kirchenkonferenz in Berlin gegeben, wie EKD-Sprecher Thomas Krüger bestätigte. Mit Rücksicht auf die kirchlichen Finanzgremien sei man mit dieser Absicht noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Nach WELT-Informationen sollen zehn Millionen Mark fließen. Diesen Betrag wollte Krüger weder bestätigen noch dementieren. "Sie sind auf der richtigen Spur", sagte dagegen Robert Leicht, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche. Über die Form der Beteiligung und die genaue Höhe solle noch detailliert beraten werden, so Krüger. Grundsätzlich bestehe der Wille von evangelischer Kirche und Diakonie, einen symbolischen Beitrag zu leisten. Mit einer öffentlichen Erklärung sei um den 20. Juli zu rechnen. Die Zahlung geschehe unabhängig davon, ob und wie viele Zwangsarbeiter in kirchlichen Einrichtungen der Diakonie während der NS-Zeit beschäftigt wurden. "Wir wollen so gesellschaftliche Verantwortung übernehmen", sei der Tenor der Beratungen. Überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben der Diakonie seien Zwangsarbeiter eingesetzt worden, so Krüger. M. Legband Die Kernpunkte des Gesetzes Bundesregierung und Wirtschaft zahlen in den Entschädigungsfonds der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zehn Milliarden Mark ein, kommen dafür je zur Hälfte auf. Davon stehen für die direkte Opferentschädigung 8,25 Milliarden Mark bereit. Zum Ausgleich vor allem jüdischer Vermögensschäden ist eine Milliarde Mark vorgesehen. Der "Zukunftsfonds" für soziale und kulturelle Projekte im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus wird mit 700 Millionen Mark dotiert. Erste Zahlungen an die Opfer sollen noch in diesem Jahr erfolgen. Die Betroffenen können mit Summen zwischen 5000 und 15000 Mark rechnen. Über die Zahlungen entscheiden die Partnerorganisationen vor Ort. Ehemalige NS-Zwangsarbeiter, die unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers, anderer Haftstätten oder einem Ghetto zu leiden hatten, erhalten einmalig bis zu 15000 Mark. Die gleiche Summe bekommen Opfer, die im Zuge rassischer Verfolgung unter Beteiligung deutscher Unternehmen Vermögensschäden erlitten haben; darunter fällt auch die "Arisierung" jüdischen Vermögens. Bis zu 5000 Mark bekommen jene, die in der NS-Zeit aus ihrem Heimatstaat in das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 deportiert wurden: Hierunter fallen vor allem Zwangsarbeiter aus Industrie, Landwirtschaft oder Kommunen. DW
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