WR vom 24. Dezember 1999

71jährige Sinaida Gawrilowna Barbaschina erinnert sich an
Weihnachten vor 55 Jahren als Zwangsarbeiterin bei Schade

Christfest im Lager
unterm Tannenbaum

Von Horst Hassel

Plettenberg/Jenakiewo. Rund eintausend Menschen wohnen in dem riesigen Plattenbau an der Uliza Lenina in Jenakiewo/Ukraine. Eine der Bewohnerinnen, die 71-jährige Sinaida Gawrilowna Barbaschina, wird sich heute ganz bestimmt an das Weihnachtsfest vor 55 Jahren erinnern: Damals feierte sie mit 52 weiteren Frauen aus ihrer Heimatstadt im Ostarbeiterlager der Firma Wilhelm Schade in Plettenberg unter einem geschmückten Tannenbaum die Kriegs-Weihnacht 1944.

Sinaida war mit 13 Jahren die kleinste und jüngste Zwangsarbeiterin im Schade-Lager: Man nannte sie deshalb nur "die kleine Schade". Als die italienische Armee am 1. November 1941 ihren Geburtsort Rykowo (heute Jenakiewo) besetzte, wurden die Schulen geschlossen. Sinaida und ihre drei Geschwister halfen der Mutter, die sich um die Wäsche der italienischen Soldaten kümmerte. Der Vater war zur sowjetischen Armee eingezogen worden, galt aber bereits als vermisst.

Die Versorgungslage im besetzten Rykowo war schlecht. Alle Bürger litten Hunger. Den italienischen Soldaten ging es nicht viel besser. Die hätten sogar Katzen gegessen, um ihren Hunger zu stillen, erinnert sich Sinaida, als sie jetzt vom Chronisten der WESTFÄLISCHEN RUNDSCHAU nach ihrer Zeit in Plettenberg befragt wurde. Im Frühjahr 1942 kam die (ukrainische) Polizei und verhaftete Sinaida und deren zwei Jahre ältere Schwester Alexandra. Sie wurden per Zug nach Deutschland geschickt. Da habe ich gedacht, vielleicht ist es sogar besser, wenn du nach Deutschland kommst. Dort war es, so empfand es die damals 13-jährige, sehr angenehm, ruhig, kein Krieg.

In Plettenberg angekommen, wurden Sinaida und Alexandra sowie andere Ostarbeiter zunächst in einem Keller unter der Fabrik Wilhelm Schade untergebracht. Erst später wurden dann die Ostarbeiter-Baracken gebaut. Während Sinaida mit Besen, Kehrblech und Aufnehmer in den Fabrikräumen arbeitete, musste die Schwester Alexandra Plastikfenster der Kanzeln von Messerschmitt- und Donier-Flugzeugen fertigen.

Im Lager konnten die Frauen ihr Essen selbst zubereiten. Die dafür erforderlichen Lebensmittel bekamen sie von der Firmenleitung. So wurden ukrainische Borschtsch-Suppe und andere heimische Gerichte gekocht.

Sinaida
Sinaida Barbaschina (71) schaut sich mit Tochter und Enkelkind Videobilder aus dem weihnachtlich geschmückten Plettenberg 1999 an.

Sinaida
Sinaida, "Die kleine Schade", mit den ihr verbliebenen Erinnerungsstücken: zwei Löffel!