Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung vom ?

Mit 16 Jahren vom Kaukasus nach Rathenow - "Meine beste Zeit"
Die heute 69jährige Janna Wassiliewa aus St. Petersburg fühlte sich einst bei einer Fleischerfamilie gut aufgehoben

Rathenow. (MAZ) Man mag es kaum glauben, aber die besten Jahre ihres Lebens will die 69jährige Janna Wassiliewa als Zwangsarbeiterin von 1941 bis 1945 in Rathenow verbracht haben. Auf ihrer Datscha, rund 30 Kilometer von St. Petersburg entfernt, erzählte Janna jetzt ihre abenteuerliche Geschichte.

Dabei kramt sie in alten Unterlagen, sie sucht ein Foto aus Rathenow. Aufgenommen hatte das Bild vor mehr als 50 Jahren Gerda Ribbe, die Tochter von Fleischermeister Schulz. "Was ist aus Gerda, ihrer Schwester Liselotte und Gerdas Tochter Hannelore geworden?" fragt Janna Wassiliewa sich. Es war, so erinnert sich Janna, im September 1941. Bis nach Krapotkin im Kaukasus war die deutsche Wehrmacht vorgedrungen. Die damals 16jährige hatte bis dahin ein Leben in Not und Elend gehabt. Da erschien ihr die Möglichkeit, ins ferne Deutschland reisen zu können, als erstrebenswertes Ziel. Dafür brach sie ihre Ausbildung an der Technischen Mittelschule ab. Die 16jährige war zu jung, um zu begreifen, daß sie als Zwangsarbeiterin rekrutiert wurde. Die Verwaltung der Stadt, so erinnert sich Janna, hat ihr und vielen anderen Mädchen auch nichts von einer Zwangsrekrutierung erzählt. So glaubt Janna, sie entscheide sich freiwillig für die weite Fahrt.

Ein Zug brachte Janna nach Rathenow. Hier wurde sie mit vielen anderen Mädchen auf einer Art "Markt" den Unternehmern vorgestellt, die Arbeitskräfte brauchten. Fleischermeister Schulz wählte Janna Iwanowa Zawitsch aus. Als Köchin und Putzhilfe war Janna vom September 1941 an im Haushalt des Fleischermeisters Schulz beschäftigt. Sie habe es gut gehabt, erinnert sie sich. Sogar ein Taschengeld habe es gegeben. Die Fleischerei sei ein dreistöckiges Gebäude gewesen. Im Erdgeschoß war das Ladengeschäft, in der ersten Etage die Wohnung mit großem Wohnzimmer, und im Dachgeschoß befanden sich die Töchterzimmer, ihr Zimmer und das der Wäschefrau. Dazu habe es einen kleinen Hof mit einer Wurstküche gegeben. Dort seien drei Polen dem Fleischermeister zur Hand gegangen.

Besonders gerne erinnert sich Janna daran, daß sie die Gelegenheit bekam, Geigenunterricht zu nehmen. Ein Fräulein Drusicke oder Dreusicke habe sie kostenlos unterrichtet. Als weiterer Name fällt ihr der einer netten Verkäuferin ein - "Kredl oder Kriddel". Die Fleischermeisters-Tochter Gerda habe Ribbe geheißen, und die Familie habe einen Hund namens Feri gehabt. Die Frau des Fleischermeisters sei wie eine Mutter für sie gewesen, erzählt Janna von dieser Zeit. Nach Berlin sei sie einmal mit der Frau Fleischermeister gefahren, das sei beeindruckend gewesen.

Im Frühjahr 1945 hat, so erinnert sich Janna, eine Bombe des Dachboden des Hauses Schulz zerstört. Dabei sei ein Teil ihrer Habe verbrannt. Vieles davon sei ihr ersetzt worden. Dann weiß sie nur noch, daß sie die letzten beiden Monate, also bis März 1945, bei einem Optiker (der Mann humpelte etwas) gearbeitet hat. Der näher rückende Krieg war für die inzwischen 20jährige Anlaß, schnell einen Weg in ihre russische Heimat zu suchen. Bis St. Petersburg ist sie damals gekommen, und dort lebt sie heute noch.

Sie erinnert sich gerne an die Zeit in Rathenow und denkt oft darüber nach, was aus der Familie Schulz geworden ist. Tochter Liselotte habe "irgendwas mit Medizin gelernt". Von der Fleischerei sei es "fünf Minuten zu Fuß" bis zu einem Krankenhaus gewesen, findet Janna in fast akzentfreier Aussprache immer mehr deutsche Worte wieder. Sie sagt, sie habe schöne Erinnerungen an diese Zeit.

Horst Hassel