WR vom 16. Dezember 1999 Zwei Löffel als Erinnerung an Sklavenarbeit
Von Horst Hassel
Jenakiewo/Ukraine. Am 20. Januar 2000 soll die zweite Rente aus
Deutschland ausgezahlt werden. Darauf hoffen derzeit rund 650 000 noch
lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern in der Ukraine. Anfang Dezember wurde
ihnen gezeigt, welche Briefe sie ihren ehemaligen deutschen Arbeitgebern
schreiben müssen, um in den Genuss des Geldes zu kommen. Dass seit Monaten
über ihre zweite Rente durch Graf Lambsdorff in den USA verhandelt wurde,
ist dagegen kaum bekannt. |
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1997 haben sie die erste Rente von 600 Mark Entschädigung bekommen. Das bestätigten alle Zwangsarbeiter, die kürzlich privaten Besuch aus Deutschland bekamen: Knapp zehn Minuten Zeit nahm sich Bürgermeister Michailowitsch V. Litovschenko aus Jenakiewo/Ukraine für die Geschwister Dr. Gudrun Brockhaus (München) und Dipl.-Psych. Eckhardt Brockhaus (Fuldabrück), dann rief ihn Wichtigeres - der Wahlkampf. Zum zweiten Mal stattete Eckhardt Brockhaus (54) vor wenigen Tagen Jenakiewo, der Stadt der Zwangsarbeiter (fast jeder zweite Einwohner wurde 1942 verschleppt), einen Besuch ab. Im August 1999 hatte der Mitgesellschafter der Gesenkschmiede Brockhaus Soehne in Plettenberg/Sauerland erstmals ehemalige Ostarbeiter der Gesenkschmiede besucht, um unabhängig von den Entschädigungsverhandlungen private Überlebenshilfe zu leisten. In den vergangenen Tagen sollte geklärt werden, wie die aus privater Schatulle der jüngeren Schwester Gudrun bereitgestellten 80 000 Mark humanitäre Unterstützung in Form einer monatliche Rente an die Zwangsarbeiter ausgezahlt werden kann. Eine Lösung fand sich bislang nicht. Nach den gesetzlichen Bestimmungen in der Ukraine kassiert der Staat 20 Prozent der monatlichen Rente aus Deutschland als Steuern; verständlich, dass Gudrun und Eckhardt Brockhaus nach einer Lösung suchen, die den Zwangsarbeitern den gestifteten Gesamtbetrag zukommen lässt. Für viele Zwangsarbeiter kommt die Hilfe zu spät - oft konnten Gudrun und Eckhardt Brockhaus nur bei den Witwen das Schicksal der Männer erfragen. Die Kohle- und Stahlstadt im Donezk-Becken ist mit ihren 120 000 Einwohnern für ukrainische Verhältnisse ein Dorf. Nachdem italienische Truppen am 1. November 1941 Jenakiewo (damals Rykowo) eingenommen hatte, begann für fast jeden zweiten Bewohner der Leidensweg als Zwangsarbeiter in Deutschland. Bis zum 3. September 1943 war die Stadt von Deutschen besetzt. Zu denen, die im Sommer 1945 nach Jenakiewo zurückkehrten, gehörte Sinaida Gawrilowna Barbaschina. Sie war gerade mal 13 Jahre alt, als man sie 1942 mit ihren Freunden von der Straáe weg verhaftete. Vier Tage später war sie rund 2500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in Plettenberg bei der Firma Schade als Ostarbeiterin produktiv. Ähnlich erging es Pawel Jakowlewitsch Tscharbanow. Er flüchtete mehrfach, musste dennoch als "Nummer 142" beim Ohler Eisenwerk (Plettenberg) in der Glüherei Schwerstarbeit leisten. Heute leben die ehemaligen Zwangsarbeiter von einer Rente, die zwischen 68 und 107 Griwni (26,00 bis 41,15 Mark) im Monat liegt. Die Mindestrente beträgt übrigens 45 Griwni, etwa 17,30 Mark. Eine Privatwohnung könnte man davon höchstens heizen, denn das kostet allein 40 Grivni/Monat. Grundnahrungsmittel sind relativ preiswert: ein Brot kostet 90 Kopeken, etwa 35 Pfennig. Für die Fahrt mit Bus oder Straáenbahn sind 30 Kopeken (12 Pfennig) fällig. Wer eine kleine Datscha mit Garten sein eigen nennt, kann überleben. Sie alle sind Meister der Einschränkung: Im Winter ziehen die Renter ins Hinterhaus in eine kleine Kammer, um das Haus nicht heizen zu müssen. In den Betonplattenbauten ist das Überleben schwieriger - die Sterberate ehemaliger Zwangsarbeiter ist dort besonders hoch. |