Der Tagesspiegel vom 6. März 2000 Entschädigung für Zwangsarbeiter Jewish Claims Conference gerät in die Kritik Um die Verteilung der Gelder tobt seit Wochen ein heftiger Streit. Der Politologe Finkelstein fordert, die Überlebenden direkt zu entschädigen - ohne den Umweg über die JCCEva Schweitzer
Morgen wird in Washington wieder um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern verhandelt,
aber hinter den Kulissen tobt schon seit Wochen heftiger Streit. Es geht um die Verteilung der
ausgehandelten zehn Milliarden Mark zwischen Osteuropäern und der "Jewish Claims Conference"
(JCC). Rund zehn Millionen Zwangsarbeiter hat es gegeben, das Gros davon Nicht-Juden aus
Osteuropa. Wieviele der jüdischen Zwangsarbeiter den Holocaust überlebt haben, ist
umstritten, aber auch, wieviele Zwangsarbeiter in welchen osteuropäischen Ländern
heute leben. Davon jedoch hängt die Verteilung der Gelder ab. Zweiter Streitpunkt: Wieviel
von den zehn Milliarden Mark geht tatsächlich an die Opfer, wieviel bleibt bei der JCC
oder anderen Organisationen und Anwälten? Und drittens ist die Frage der Rechtssicherheit
für deutsche Unternehmen in den USA noch nicht geklärt.
Die JCC spricht von knapp 700 000 Juden, die zum Kriegsende 1945 die Konzentrationslager
überstanden hätten. Von denen seien heute noch 135 000 am Leben. Norman Finkelstein,
ein New Yorker Politologe und Sohn von Auschwitz-Überlebenden, war der erste, der das
bestritt. Finkelstein arbeitet an einem Buch mit dem Titel "The Holocaust Industry". Er
verweist auf Historiker, die maximal 200.000 jüdische KZ-Insassen dokumentierten, die
1945 überlebt haben. Von diesen seien heute allenfalls 25 000 am Leben. "Mit ihren
falschen Zahlen spielt die JCC Auschwitz-Leugnern in die Hände", sagt Finkelstein. Gunnar
Heinsohn vom Institut für Xenophobie- und Genozidforschung der Universität Bremen
sagt, maximal seien 15 000 jüdische Zwangsarbeiter namentlich bekannt, die noch gar
nicht entschädigt worden seien.
Zur Verteilung der zehn Milliarden Mark ist bisher folgendes vorgesehen: 300 Millionen sollen
für Anwälte und Verwaltung verwandt werden, eine Milliarde soll in einen
"Zukunftsfonds" fließen. Ebenfalls eine Milliarde geht in einen "Arisierungsfonds", den
die JCC verwaltet und aus dem auch ihre Arbeit und ihre Organisation bezahlt wird.
Der Rest soll an ehemalige Zwangsarbeiter gehen. Zunächst war von 7,7 Milliarden Mark
die Rede, nun sollen es mehr werden - zu Ungunsten des Zukunftsfonds und des Arisierungsfonds.
Gut acht Milliarden Mark waren kürzlich genannt worden. Der Berater der russischen
Delegation, Ex-Innenminister Gerhart Baum, forderte sogar neun Milliarden. Die JCC wehrt sich
aber dagegen, aus dem Arisierungsfond etwas abzugeben, denn diese Milliarde sei den
jüdischen Organisationen bereits vor den Verhandlungen zugesagt worden, sagte
JCC-Leiter Karl Brozik der "Frankfurter Rundschau".
Debatte auch in Israel
Dieses Geld wird an Organisationen in Russland, Polen und anderen Ländern sowie an die
JCC verteilt; die Anteile sind heftig umstritten. Setzt sich die JCC mit ihren Zahlen von
135 000 Überlebenden durch, könnte sie zwei der zehn Milliarden Mark erhalten,
zusätzlich zum Arisierungsfonds. Dagegen laufen die Osteuropäer Sturm, auch deshalb,
weil ihre Zwangsarbeiter von den über 100 Milliarden Mark, die Deutschland seit dem
Krieg als Wiedergutmachung bezahlt hat, noch gar nichts bekommen haben.
Aber ohnehin gehen auch diese 7,7 bis neun Milliarden Mark nicht direkt an die Opfern. Die
betreffenden Organisationen zahlen nach bisherigem Verhandlungsstand einzelnen Opfern
maximal 15.000 Mark aus, nach Abzug ihrer Personal- und Sachkosten. Werden an die JCC gegangene
Mittel nicht von ehemaligen Zwangsarbeitern abgefordert, fließen sie der JCC
"für soziale Zwecke zu", heißt es im Gesetzentwurf. Aber auch die Mittel für
russische oder ukrainische Zwangsarbeiter werden von Organisationen in diesen Ländern
verwaltet. Auch diese ziehen ihre Personal- und Sachkosten ab.
Der Generalsekretär des World Jewish Congress, Israel Singer, hat kürzlich in der
"Berliner Zeitung" Deutschland die Schuld dafür gegeben, dass sich die Opfer nun
"streiten wie Hunde um ein Stück rohes Fleisch." Dieses Problem ließe sich am
einfachsten lösen, wenn es nach Finkelstein und Heinsohn ginge: Beide schlagen vor, die
Bundesregierung solle das Geld direkt an die ehemaligen Zwangsarbeiter auszahlen, so wie
andere Entschädigungszahlungen auch. "Mein Vater hat von Deutschland immer seine Rente
bekommen", sagt Finkelstein. "Wozu die JCC dazwischenschalten?" Außerdem weist der
Politologe darauf hin, dass die Conference ab 1952 rund 450 Millionen Mark von Deutschland
bekommen hat, in Jahresraten. Die ursprüngliche Intention der Bundesregierung war, mit
dem Geld ausschließlich individuelle Opfer des NS-Regimes zu entschädigen. Die JCC
aber habe ausgehandelt, mit den 450 Millionen auch anderes, etwa den Gemeindeaufbau in Israel
zu finanzieren.
Auch in Israel schlägt die Debatte Wellen. Der Knesset-Abgeordnete Michael Kleiner warf
der JCC Ende Februar im israelischen Parlament vor, sie horte Milliarden von Dollar an Bargeld
und Immobilien. Gegenüber individuellen Opfern habe die JCC "drakonische Kriterien"
festgelegt, nach denen Gelder ausgezahlt würden, berichtet die "Jerusalem Post". Die New
Yorker JCC-Sprecherin Alissa Kaplan wies dies zurück. "Diese Anschuldigungen sind falsch",
sagte sie. "Wir sitzen nicht auf Milliarden." Die JCC hat zum Beispiel ehemals "arisierte"
Grundstücke in den neuen Ländern übernommen, für die es keine Erben mehr
gab. "Warum schießt die JCC aus diesem Vermögen nicht Geld an Zwangsarbeiter vor,
von denen täglich welche sterben?" fragt Gunnar Heinsohn.
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