WR vom 16. Dezember 1999
RUNDSCHAU auf den Spuren von Zeitzeugen in der Ukraine
Von Horst Hassel
Plettenberg/Jenakiewo. Ehemalige Zwangsarbeiter in Jenakiewo bekamen jetzt
überraschend Besuch aus Deutschland: Ein Rundschau-Journalist und ein
WDR-Hörfunk-Reporter suchten nach Zeitzeugen und Lebenszeichen. Gleichzeitig
weilten Eckhardt und Gudrun Brockhaus in Jenakiewo, stark beachtet von der
ukrainischen Presse, hoffnungsvoll erwartet von ehemaligen
Brockhaus-Soehne-Zwangsarbeitern.
Obwohl Jenakiewo in der Ukraine 120.000 Einwohner hat, fällt es seit dem
Zusammenbruch des Sowjetreiches heute auf, wenn Besuch aus Deutschland
auftaucht. Es gibt zwar ein Hotel, doch in dem gab es in den letzten drei
Monate keine Gäste mehr. Das spürt man: Kaltes Wasser ist manchmal knapp,
warmes unbekannt, Stromausfall kommt vor, die einzige Verpflegungsmöglichkeit
in Sichtweite ist ein angrenzendes Cafe, zugleich Bar, in der auffallend
viele Blondinen in hochhackigen Lederstiefeln zur Stammkundschaft zählen.
Morgens um 7 Uhr ertönt im Stahlwerk am Fuße der Stadt ein lautes Hupensignal
- Arbeitsbeginn. Um 17 Uhr trötet es erneut: Feierabend. Das Stahlwerk und
ein halbes Dutzend Kohlengruben bestimmen den Rhythmus der Stadt.
Die Rauchschwaden der Hochöfen des Stahlwerks lassen den Ort oft unter einer
dichten Nebeldecke verschwinden. Mehrmals in der Woche ist Markt in einer
großen Markthalle und an vielen Buden und Ständen im Freien. Das Angebot an
Lebensmitteln ist reichlich. Dass sie sich kaum jemand leisten kann, wird
an den Frauen deutlich, die Gebrauchtes aus dem Haushalt für ein paar
Kopeken feilbieten: ein altes Bügeleisen, eine Schürze oder einen Schal.
Bei Valentina Jurasewa, der Regionalbeauftragten der Ukrainischen Nationalen
Stiftung für Aussöhnung und Verständigung" gibt es einen Überblick, welche
Entschädigungszahlungen Zwangsarbeiter bisher erhalten haben.
Für die erste Rentenzahlung, so nennt man die Entschädigungszahlung der
Bundesrepublik des Jahres 1997 an die ehemaligen Ostarbeiter, galt der
15.07.1983 als Stichtag. Damals bekamen die ehemaligen Zwangsarbeiter bzw.
deren nächste Angehörigen oder diejenigen, die für die Beerdigung gesorgt
haben, Pauschalbeträge in der Staffelung 300,- DM (Nachbarn, die
alleinstehende ehemalige Zwangsarbeiter begraben haben), 560,- DM
(Landwirtschaft), 600,- DM (Fabrikarbeiter), 660,- DM (unter 16 Jahre bei
der Verschleppung), 970,- Mark (KZ-Opfer). Angesichts einer Mindestrente
von 45 Griwni (17,30 Mark) entspricht das bis zu zwei Jahresrenten und mehr.
1995 lebten in Jenakiewo noch 3000 ehemalige Ostarbeiter, heute sind es
vermutlich weniger als 1500.
In der Redaktion der regionalen Tages- und Wochenzeitungen von Jenakiewo
wurden Dr. Gudrun Brockhaus und Dipl.-Psych. Eckhardt Brockhaus nach
Hintergründen ihres Engagements für die Zwangsarbeiter befragt. Fast ein
Drittel der Plettenberger Zwangsarbeiter aus Jenakiewo ist inzwischen
verstorben. (WR-Bilder: Hassel)
Jenakiewos Bürgermeister Michailowitsch V. Litovschenko hatte für die Brockhaus-Geschwister wenig Zeit - es ist Wahlkampf.
Valentina Jurasewa konnte den Besuchern aus Deutschland aktuelle Listen der Plettenberger Zwangsarbeiter vorlegen.
|