Gastfreundschaft überall: Tisch bog sich unter Köstlichkeiten
vom 8. - 13. Dezember 1999
Als der Dipl.-Psychologe Eckhardt Brockhaus im Oktober 1999 ankündigte, er werde im Dezember des Jahres
noch einmal in die Ukraine fliegen, dort ehemalige Zwangsarbeiter der Firma Brockhaus Söhne treffen,
und mit ihnen über eine private Entschädigung sprechen, kam mir gleich der Gedanke, selbst mitzufliegen,
um aus erster Hand Berichte über die Zeit von 1942 bis 1945 von ukrainischen Zeitzeugen zu bekommen.
Das Reisebüro N & N Reisen in Hamburg bot den Flug inklusive Visum an, so daß die Mühe zur Beschaffung
einer sonst erforderlichen Einladung aus der Ukraine erspart blieb. Während Eckhardt Brockhaus bereits zwei
Tage früher von Frankfurt nach Kiew flog, um dort noch Verhandlungen und Gespräche zu führen, nahm ich am
8. Dezember 1999 von Düsseldorf aus die Lufthansa-Maschine nach Wien, von dort ging es per Austrian Airlines
weiter nach Dnjepopetrowsk.
Um ebenfalls zum Thema Zwangsarbeiter zu berichten, hatte sich mir der Freie Mitarbeiter des WDR-Hörfunks
Studio Siegen, Torsten Dreyer (Altena), angeschlossen.
Nachdem man uns im Flughafengebäude Dnjepopetrowsk erst nach Zahlung von 6 DM für eine ominöse
Krankenversicherung abgefertigt hatte, ging es per Linienbus (besplatna - kostenlos) vom Flughafen zum Hauptbahn
von Dnjepopetrowsk. Es war etwa 15 Uhr, als wir dort eintrafen. Zunächst hatte ich geplant, von Dnjepopetrowsk aus
mit dem Zug oder per Überlandbus zu unserem rd. 400 km entfernten Zielort Jenakiewo (geschrieben Enakiewo) zu
fahren. Der nächste Zug, so konnte ich auf der Anschlagtafel im Hauptbahnhof lesen, fuhr erst um 23.45 Uhr ab und
war erst am anderen Morgen um 7 Uhr in Donezk, dass etwa 60 km von Jenakiewo entfernt liegt.
Da unser Dolmetscher uns noch am gleichen Abend gegen 22 Uhr erwartete, suchte ich nach der Bus-Haltestelle,
weil der Bus, so hatte der Dolmetscher mir Tage zuvor auf meine Frage hin telefonisch erklärt, schneller fahre.
Als wir unser Gepäck wieder vor das Bahnhofsgebäude schleppten, sprangen gleich einige Taxifahrer auf uns zu
und fragten nach unserem Ziel. Die Busstation? Nein, wo die sei, das wisse man nicht (!). Ein allgemeiner Rundruf
unter den Taxifahrern, wo denn die Schnellbus-Station sei, blieb ohne Antwort. Auf die Frage, wohin wir denn wollen,
sagte ich "Donezk". Sofort wurde unter den Taxifahrern diskutiert, dann bot einer an, für "400 Griwen" nach Donezk
zu fahren.
Jetzt ging ich erst einmal zu den am Bahnhofsvorplatz liegenden Wechselstuben und erkundete den Umrechnungskurs.
Für 100 Mark gab es dort 260 Griwen. Ich wechselte und handelte dann mit dem Taxifahrer aus, dass er uns für 400 Griwen
aber bis nach Jenakiewo vor das Hotel bringen müsse. Nach einigem Zögern war er einverstanden.
Nun ging es über gute Straßen auf die rund 400 km lange Strecke nach Jenakiewo. Die Fahrt wurde nur ab und an
unterbrochen, weil getankt werden mußte oder der Fahrer für sich und für uns eine Flasche Wasser holte. Der Mann
qualmte wie ein Schlot, worunter besonders Torsten Dreier zu leiden hatte, weil er hinten links saß, und der Fahrer für
jede Zigarette die Seitenscheibe herunterdrehte und damit frische ukrainische Luft von etwa 4 Grad hereinließ.
Gleich nachdem die ersten Häuser von Jankiewo aufgetaucht waren, hielt unser Taxifahrer Sascha einen anderen Fahrer
an und fragte nach dem Hotel. Zehn Minuten später, es war mittlerweile 21 Uhr, standen wir vor einem neungeschossigen
Plattenbaugebäude von dem der Taxifahrer behauptete, es sei das "Hotel MIR". Es sah zwar nicht aus wie ein Hotel, aber
da man uns erzählt hatte, es gebe nur ein Hotel in der 110.000 Einwohner-Stadt, glaubten wir ihm. Im Hotel war man mehr
als überrascht, uns als Kunden zu sehen. Wie Torsten später erfuhr, war drei Monate zuvor der letzte Gast dort abgestiegen.
Zunächst versuchte ich auf eigene Faust (mit meinem wenigen Russisch-Kenntnissen aus St. Petersburg) Zimmer für uns zu
mieten. Zwei unterschiedliche Zimmer wurden uns dann zur Auswahl gezeigt. Als wir die Preise hörten (52 Griwen für ein
kleines Doppelbett-Zimmer, 102 Griwen für ein komfortables großes 2-Bett-Zimmer), entschieden wir uns für die preiswertere
Variante im 4. Stock. Wir brachten unser Gepäck auf das Zimmer, anschließend rief ich vom Hotel-Foyer aus unseren Dolmetscher
Alexander Rolenko an. Der tauchte dann auch zwanzig Minuten später auf.
Wir regelten mit seiner Hilfe endgültig die Zimmer- und Kostenfrage und setzten uns dann zur Besprechung des weiteren
Vorgehens am nächsten Tag in der benachbarten Cafeteria/Bar zusammen. Gleich beim Eintreten in die Cafeteria kam der
(vermutlich) Geschäftsführer des höchstens dreißig Quadratmeter großen Lokals auf uns zu und reservierte uns den vermeintlich
besten Tisch des Lokals direkt an der Theke. Als wir am nächsten Tag wieder dort eintraten, mussten die Gäste an diesem Tisch
aufstehen - der Geschäftsführer räumte den Tisch für seinen ausländischen Gäste.
Am nächsten Morgen trafen wir uns gegen 9.30 Uhr mit Alexander und gingen zu Fuß die rund 500 Meter zur Straßenbahnhaltestelle.
Von dort aus fuhren wir in den Außenbereich von Jenakiewo, um unseren ersten Interviewpartner zu sprechen. Alexander hatte
zwischenzeitlich versucht, die auf unserer Liste stehenden gewünschten ehemaligen Zwangsarbeiter telefonisch zu erreichen,
was ihm zum großen Teil auch gelungen war.
Die Temperaturen lagen tagsüber bei 6-12 Grad (entweder Nebel oder strahlender Sonnenschein), einige Schnee- und Eisreste
lagen an den Fahrbahnrändern. Der Dezember, so erklärte man uns, sei in der Ukraine kein starker Wintermonat - der November
sei immer wesentlich kälter.
Unser erster Gesprächspartner war Pawel Jakowlewitsch Tschabanow, Ul. Goworowa 19. Er wohnte in einem der kleinen Häuser,
wie man sie im Außenbereich vielfach fand. Nach deutschen Maßstäben würde man von komfortablen Gartenhäuschen sprechen,
wobei einige der Häuser durch zahlreiche Anbauten oder Zweitgebäude durchaus mit deutschen Einfamilienhäusern vergleichbar
waren.
Sehr freundlich wurden wir von Pawel und seiner Frau begrüßt. Alexander schilderte kurz unser Anliegen. Wir zogen uns nach
dem Eintritt ins Haus die Schuhe aus (ist auch dort so üblich, kannte ich von Russland her), dann begannen wir auch schon mit
dem Interview. Alexander hatte Mühe, Pawel zu jeweils kurzen Sprechpausen zu überreden, damit er uns Pawels Schilderung
übersetzen konnte.
Pawels Frau signalisierte sofort, sie werde jetzt Tschai (Tee) und andere Köstlichkeiten zubereiten. Meiner Bitte, zwischendurch
nur mal ein Tässchen Tee zu trinken, kamen Torsten und Alexander nicht nach. Die Folge: Gegen Ende des Interviews bog sich
der Tisch unter Köstlichkeiten wie Rote-Beete-Salat, Ucha (Fischsuppe), äußerst leckeren Kuchen - und als wir uns endlich nach
gut zwei Stunden aus der herzlichen Gastfreundschaft gelöst hatten, stopfte uns Pawels Frau die Taschen noch mit
Sonnenblumenkernen voll.
Per Taxi ging es zum nächsten Gesprächspartner, ebenfalls im Außenbereich. Mittlerweile war es bereits dunkel geworden
(ab 15, spätestens 16 Uhr wurde es bereits dunkel). Da wir uns gegenüber unserer telefonischen Vereinbarung verspätet hatten,
war der Gesprächspartner (Nikolai Pawlowitsch Stepanenko) nicht mehr da. Per Straßenbahn ging es zurück ins Zentrum. Von
hier aus besuchten wir noch drei weitere Adressen, doch in allen Fällen waren die ehemaligen Zwangsarbeiter bereits verstorben.
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