Butterbrote auf dem Weg in die Kanonenfabrik Ehemalige Zwangsarbeiterin meldete sich - Als Dreherin gearbeitet Vom 10.03.2000 Marija Vassiljevna Botscharnikova schreibt nicht von Leid und Angst: "Im Jahre 1942 wurde die junge Bevölkerung besetzter Gebiete zu Zwangsarbeiten gewaltsam nach Deutschland ausgefahren. Auf diese Weise bin ich nach Bad Kreuznach in den Kriegsbetrieb Seitz-Werke gekommen." So schlicht werden manchmal gewaltsame Kriegserlebnisse zu Papier gebracht. Von Kerstin Zehmer Auf Nachfrage der ehemaligen Leiterin des Stadtarchives, Dr. Andrea Fink, beschrieb eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus Russland mit diesen Worten die Bedingungen, unter denen sie von 1942 bis 1945 nach Bad Kreuznach kam und arbeitete. Bestätigung erbeten Marija Vassiljevna Botscharnikova hatte sich bereits im Oktober 1995 an den Bürgermeister der Stadt Bad Kreuznach gewandt, um eine Arbeitsbestätigung über ihre Kriegsjahre in Deutschland zu erhalten. Die Stadtverwaltung reichte das Bittschreiben an die KHS weiter, die der Frau lediglich pauschal bestätigte, dass in den Jahren 1942 bis 1945 "dreizig Personen als Fremdarbeiter im Rüstungsbetrieb Seitz-Werke GmbH beschäftigt waren". Für einen Anspruch auf Entschädigung aus dem Fond der Stiftungsinitiative der deutschen Industrie ist dieses Schreiben nicht ausreichend. Die ehemalige Stadtarchivarin nahm Kontakt zu der heute 77-jährigen Frau auf, die bei Seitz als Dreherin eingesetzt wurde. "In dem Betrieb arbeitete ich bis zu zehn Stunden pro Tag, wir haben Geschosse für die Front hergestellt. In den Hallen waren Aufseher, Werkschutz. Für die Arbeit wurde nicht gezahlt", schreibt Marija Botscharnikova, die sich über das Interesse der Archivarin freut: "Ich bedanke mich sehr für ihre Anteilnahme", schrieb sie nach Bad Kreuznach. Geschosse für die Front
Fast sechs Millionen Fremdarbeiter seien allein im Herbst 1944 in Industrie, Landwirtschaft
und für die Kommunen tätig gewesen. "Arbeitsfähige Männer und Frauen im Alter von 15 bis 50
Jahren wurden beispielsweise in Weißrussland oder in der Ukraine etwa bei Gottesdiensten oder
Hochzeiten gefangen genommen und verschleppt.
In Polen war es üblich, ganze Dörfer niederzubrennen, wenn die Einwohner sich weigerten,
den Arbeitsdienstbescheiden der deutschen Behörden nachzukommen", berichtet die Kreuznacher
Diplom-Politologin Ulrike Winkler im Gespräch mit der AZ.
Die ehemalige Zwangsarbeiterin aus Russland, die bei Seitz arbeiteten musste – der
Rüstungsbetrieb stellte damals Kanonenrohre und Schützenpanzerköpfe her – erinnert sich aber
auch an positive Erfahrungen, die sie in ihrer Zeit an der Nahe machte: "Die ansässige
Bevölkerung und Arbeiter haben uns nicht schlecht behandelt."
Einige der Zwangsarbeiter waren in Baracken auf dem Kuhberg untergebracht. Auf ihrem
Weg von der Übernachtungsstätte zu den Seitz-Werken fand die Arbeiterin "Butterbrote und
Kleidung", die Kreuznacher Bürger dort hinterlegt hatten. Wer den Arbeitseinsatz verweigert
habe, sei ins Gefängnis gekommen, erinnert sich die heute 77-Jährige.
180 Milliarden Mark
"Unser so genanntes Wirtschaftswunder verdanken wir nicht nur den alliierten Finanzspritzen,
der Währungsreform und dem Arbeitseifer der Deutschen, sondern auch den Werten, die von
Millionen Zwangsarbeiter geschaffen wurden. Zehn Milliarden Mark Entschädigung stehen
64 Milliarden erzwungenen Arbeitsstunden gegenüber, die den Unternehmen einen Gewinn von
umgerechnet 180 Milliarden DM erbrachten", gab die Politikwissenschaftlerin während eines
Vortrages in der Meisenheimer Synagoge der Zuhörerschaft zu bedenken. |