Frankfurter Rundschau 18.09.2000
Zwangsarbeiter: Viele Anfragen, wenig Personal

Archivare aus Süd- und Mittelhessen tagten
Von Jörg Feuck

DARMSTADT. Die größeren Regionalarchive, die individuelle Schicksale ehemaliger NS-Zwangsarbeiter mit Quellen dokumentieren und Nachweise für Entschädigungsansprüche ausstellen können, haben zu wenig Personal, um auf die Fülle von Anfragen seit Verabschiedung des "Entschädigungsgesetzes" durch den Bundestag im Juli zu reagieren. Bei einer Tagung von Archivaren aus Süd- und Mittelhessen in Darmstadt sagte Archivoberrat Klaus-Dieter Rack vom Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, sein Haus könne noch mehr als die bereits in die Hunderte gehenden Bitten von NS-Opfern aus osteuropäischen Staaten um Recherchen und Beweishilfe "nicht verkraften". Das Wissenschaftsministerium lehne aber eine Personal-Aufstockung ab.

Während der Tagung erörterten die Historiker auch andere praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des "Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung - Erinnerung, Verantwortung und Zukunft": So gibt es Sprachprobleme - die an die Archive geleiteten Briefe der Betroffenen müssen oft mühsam übersetzt werden. Ungelöst ist auch die Frage, in welcher rechtsgültigen Form die Belege über Zwangsarbeit ausgestellt werden sollen.

Das Staatsarchiv vertraut in seinen Rückschreiben auf Briefkopf mit hessischem Wappen, das Dienstsiegel auf der Unterschrift und Kopien der einschlägigen Akten.

Ferner äußern die Archivare Zweifel, ob die Post in den Staaten der Ex-Sowjetunion auch bei denen ankommt, für die sie bestimmt ist. All das "verunsichert die Bemühungen, den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wirkungsvoll und rasch zu ihren Rechtsansprüchen auf Entschädigung zu verhelfen", sagte Rack. Laut Gesetz haben die Betroffenen nur acht Monate Zeit, einen Antrag auf Entschädigungszahlung zu stellen.

Trotzdem empfehlen sich die drei Hessischen Staatsarchive in Wiesbaden, Marburg und Darmstadt als landesweit zentrale Anlaufstellen für die Menschen, die in der Nazi-Zeit aus ihrer Heimat nach Deutschland zum Schuften deportiert wurden. Laut Rack hat etwa das Staatsarchiv Darmstadt eine "überraschend enorme Materialfülle" aus Beständen in Süd- und Mittelhessen, die Zeugnis ablegen über die reglementierten und repressiven Arbeits- und Lebensverhältnisse sogenannter Zivilarbeiter, ausländischer Straf- und Kriegsgefangener. Daraus ist inzwischen - bundesweit noch eine Seltenheit - ein rasch zugängliches Spezialinventar erstellt worden, das auch im Internet abrufbar sein soll.

Eine "gute Quellenlage", so Rack, ergibt sich aufgrund des Archivguts aus Kreisverwaltungen - die Akten liefern Aufschluss über Meldung, Beschäftigung und Kontrolle ausländischer Arbeiter, über ihre Verteilung auf Bauernhöfe, Gewerbe und Industrie, den Einsatz bei Kommunen und Reichsbahn. Es existieren noch kreispolizeiliche Registrierungsakten mit Angaben von Arbeitgebern sowie Dokumente der Arbeitsämter, die etwa "Durchgangslager" für sowjetische Zwangsarbeiter verwalteten. Nach Angaben von Rack lassen sich Details wie die Unterbringung in Privathaushalten und Lagern, der Bau von Baracken und die medizinische Überwachung rekonstruieren.

Wertvoll für die Ex-Zwangsarbeiter können auch die Bestände von Justizakten sein: Die Amtsgerichte, so berichtet Rack, verhängten Strafbefehle gegen unzählige Polen und Ukrainer wegen unerlaubten Verlassens ihrer Aufenthaltsorte und Nichttragens des Nationalitätenzeichens - Delikte, die bisweilen mit Verschleppung in Arbeitserziehungslager geahndet wurden. Beredte Quellen sind zudem die Überlieferungen der Gefangenenanstalten (Fälle von Lebensmitteldiebstahl oder Arbeitsverweigerung) und Berichte über ausländische Strafgefangene in Lagern, die ab 1942 an Rüstungsfirmen per Vertrag "verliehen" wurden.

Bedeutung messen die Archivare auch Personenkarteien mit zigtausenden Namen ausländischer Arbeitskräfte zu, die der Staatspolizei auffielen, sowie den Melderegistern kommunaler Ortspolizeibehörden. Fündig werden könne man ferner in Quellen der staatlichen und privaten, adligen Forstverwaltung, die Arbeiter für "kriegswirtschaftlich notwendigen Einsatz " anforderten. In den noch eigenständig geführten Adelsarchiven der Region werde "gewiss auch der Arbeitseinsatz von Ausländern festzustellen sein", schätzt der Nationalsozialismus-Experte Rack.

Durch die aktuelle Entschädigungsdiskussion kommen noch Überraschungen ans Licht: Auf mehrfache gezielte Nachfrage des Staatsarchivs Darmstadt sind beim Altkreis Lauterbach "Ausländerkarteien" samt Anhang aus der NS-Zeit gefunden worden.

Ebenso wurden kürzlich unbeachtete und "vergessene" Listen über die von den Alliierten zwischen 1946 und 1950 angeordnete "Ausländer-Suchaktion" aus dem Altkreis Darmstadt mit Namensverzeichnissen und Aufenthaltsdauer im Landratsamt Darmstadt entdeckt und ans Staatsarchiv geliefert.


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Dokument erstellt am 17.09.2000 um 23:55:16 Uhr
Erscheinungsdatum 18.09.2000