Quelle: WR 13.11.1999

Der damals 19 Jahre alte Zwangsarbeiter Peter Altinow aus der Ukraine erinnert sich an die Zeit von 1942 bis 1945 in Plettenberg:

Nur eine warme Mahlzeit
und Brot mit Sägemehl

Von Horst Hassel

Plettenberg. "Warmes Essen bekamen wir nur einmal am Tag, das Brot war mit Sägemehl gestreckt. Um das Lager war ein Stacheldraht, der unter Strom stand." An solche negativen, aber auch an viele positive Details erinnerte sich jetzt ein Zwangsarbeiter, der von 1942 bis 1945 in einem Plettenberger Betrieb arbeitete.

Vor wenigen Tagen hat das Fernsehbüro Berlin in Kiew/Ukraine ehemalige Zwangsarbeiter aus Plettenberg vor laufender Kamera von ihren Erlebnissen in den Jahren 1942-1945 erzählen lassen. Fernsehaufnahmen in Plettenberg sind ebenfalls noch geplant. Deutlich wird dadurch das Interesse am aktuellen Thema Zwangsarbeiter. Während Bürger in Städten wie Goslar sich mit diesem Teil ihrer Geschichte längst auseinander gesetzt haben, tut man sich in Plettenberg damit noch schwer.

Der WR liegen inzwischen Aufzeichnungen mehrerer Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern vor, die heute in Kiew oder Jenakievo, Bezirk Dnjepopetrowsk, leben. Aus dem Raum Jenakievo kamen 1942 Hunderte von Ostarbeitern direkt nach Plettenberg. Einer von ihnen, Pjotr (Peter) Altinow, schilderte sehr ausführlich, was er hier erlebt hat:

Auf dem Heimweg von italienischen Soldaten verschleppt

"Ich war damals Lokführer und nach der Arbeit auf dem Heimweg, als ich plötzlich von italienischen Soldaten umringt war. Sie nahmen mir meine Papiere ab und übergaben mich wenig später deutschen Soldaten, die eine Kolonne ukrainischer Männer, Frauen und Jugendliche zur Bahnstation Uglegorsk führten. 80 bis 100 Leute kamen dort in jeden Güterwaggon. Russische Hilfspolizisten im Dienste der Deutschen, Verräter, erklärten uns, dass es nach Deutschland geht.

Sogenannte 'Russengräber'
Auf dem alten Ohler Friedhof an der Lennestraße erinnern zwanzig Tafeln und ein Obelisk, Russenstein genannt, an hier verstorbene Zwangsarbeiter.

Drei Tage dauerte die Fahrt. Zu Essen oder zu Trinken gab es nichts. Der Zug hielt einige Male, dann wurden immer die Leichen rausgeworfen. Eine alte Frau, ein Kind und einige ältere Männer starben. Wir hatten alle Angst, erschossen zu werden. Der Zug war von vielen Soldaten mit Gewehren bewacht.
In Deutschland kamen wir nach 'Westfalen', so wurde erzählt. Etwa 3000 bis 5000 Leute sind aus dem Zug ausgeladen worden. Wir kamen in Baracken, die im Gegensatz zu den Waggons mit Stroh ausgelegt waren, und sollten uns ausruhen.

Abends kamen die Fabrikanten, um kräftige, junge und gesunde Arbeiter auszusuchen. Wir wurden zu mehreren Ukrainern mit einem Lkw zu Firmen in Plettenberg gebracht. Dort kamen wir in ein Barackenlager mit dreistöckigen Bettgestellen. Das Lager war mit Stacheldraht umgeben, der unter Strom stand. Warmes Essen gab es dann einmal am Tag, abends nach der Arbeit: Gemüsesuppe mit Steckrüben. Das Brot, das wir bekamen, war mit Sägemehl gestreckt.

Es wurden Listen angefertigt. Jeder Zwangsarbeiter bekam einen Schlafplatz zugewiesen und eine Nummer. Es wurde nach der Qualifikation gefragt. Am nächsten Tag wurden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen (Anm. d. Red.: für die Ostarbeiter-Kartei der Stadt Plettenberg). Im Lager bekamen wir Kleidung und Holzschuhe. Sie waren sehr schwer und beim Laufen sehr laut - man hörte schon von weitem, wenn die Kolonne marschierte.

Unser Tagesablauf sah so aus: Morgens nach dem Wecken haben wir uns gewaschen, dann gab es Tee oder Kaffee und wir wurden vom Wachpersonal des Lagers zur Fabrik geleitet. Die Arbeit fing um 7 Uhr an, um 12 Uhr gab es eine Mittagspause. Dann aßen die Deutschen an ihrem Arbeitsplatz. Wir hatten nichts zu Essen, wir bekamen ja erst abends etwas, und warteten, bis es wieder losging. Ab und zu bekamen wir mittags vom Essen der Deutschen etwas ab. Um 16 Uhr ging die Sirene.

Es gab ein Gerücht, dass Kranke verbrannt wurden!

Die deutschen Arbeiter stempelten ihre Karte, wir Zwangsarbeiter sammelten uns, mussten uns zur Kolonne aufstellen, dann ging es zurück ins Lager. Im Lager gab es eine Dusche, aber da kam nur kaltes Wasser raus. Manchmal wurde zur Bestrafung einer daruntergestellt."
Wie Pjotr Altinow weiter erzählt, hatten alle Zwangsarbeiter große Angst, krank zu werden. "Wenn jemand krank wurde, durfte er 1 bis 2 Tage im Lager bleiben. War er länger krank, wurde er weggeschleppt - wohin, wusste keiner. Dann kam ein Neuer auf seinen Platz.

Baracke
Dies ist keine Ostarbeiterbaracke, aber so wie diese (vermutlich letzte im Stadtgebiet erhaltene) Baracke sahen die Unterkünfte der Zwangsarbeiter aus, in die ab Mai 1945 Flüchtlinge einzogen.

Es gab das Gerücht, dass die Kranken verbrannt würden. Das erzählten die Neuen, die ins Lager kamen. Deshalb hat man nichts gesagt, wenn man krank war."
Nach einiger Zeit fand sich der 19jährige Pjotr Altinow in der Fabrik gut zurecht, sprach etwas Deutsch, durfte das Werksgelände auch mal alleine verlassen und mit der Bevölkerung sprechen. "Ich habe nie vorgehabt zu fliehen. Es hieß, man komme dann ins KZ."
Das Essen sei nicht immer schlecht gewesen. Im Lager hätten sie einen Koch gehabt, der ein eigenes Pferd hatte, dass aus Altersgründen geschlachtet werden mußte. Die Zwangsarbeiter seien vom Koch mit diesem Pferdefleisch beköstigt worden.

Manchmal durften wir das Frauenlager und das Dampfbad besuchen

"In Plettenberg gab es ein Frauenlager (Anm. d. Red.: bei der Firma Schade), dass durften wir manchmal besuchen. Das Lager war nur durch ein Gitter vom Franzosenlager getrennt. Ein Zwangsarbeiter aus Jenakievo, Victor Nikolajew, hat sogar im Lager geheiratet - der Kommandant hat das erlaubt. Es gab auch in der Stadt eine Art Dampfbad, das wir manchmal aufsuchen durften."

Zur Frage, ob die Zwangsarbeiter für ihre Arbeit entlohnt worden sind, stellt Pjotr Altinow fest: "Die Deutschen haben Lohn bekommen. Uns ist gesagt worden, das Geld werde später an uns ausgezahlt, was aber nicht geschehen ist. Wir haben auch keine Wertmarken bekommen. Wenn wir etwas brauchten, haben wir darum gebettelt. Die deutschen Arbeiter haben uns Rasierklingen mitgebracht. Eine Krankenschwester hat Seife und Zahnpasta ausgeteilt. Kleidung haben wir auch bekommen - gestreifte Arbeitskleidung und Schuhe aus Holz, später auch Schuhe, bei denen nur die Sohle aus Holz war. Unterwäsche gab es nicht.

Wenn die deutschen Arbeiter einen Hilfsarbeiter privat haben wollten, konnten sie sich an den Lagerkommandanten wenden, der lieh ihnen Zwangsarbeiter aus. Die haben am Wochenende für die Deutschen gearbeitet und bekamen etwas zu Essen dafür."

Als die Amerikaner am 11. April 1945 in Windhausen standen, wurden alle Zwangsarbeiter (Russen, Franzosen, Italiener, Polen und Rumänen) im Stadtgebiet zusammengerufen und als Kolonne in Richtung Amerikaner geschickt.

Altinow: "Die Deutschen, die sich hinter der Kolonne aufhielten, schossen mit einer kleinen Kanone in Richtung Amerikaner. Sie rechneten wohl damit, dass die Amerikaner zurückfeuern und dabei die Zwangsarbeiter umbringen würden. Aber ganz vorne in der Kolonne hatten Franzosen ein weißes Bettlaken dabei und schwenkten es. Die Amerikaner haben das gesehen und nicht geschossen."
Nach drei Monaten in einem amerikanischen Lager wird Altinow den Russen übergeben. Für die muss er ein unterirdisches Flugzeugwerk der Firma Messerschmitt demontieren. Am 7. 11.1945 ist Pjotr Altinow wieder zu Hause.

Grabstein Alexander Dimitriew
Alexander Dimitriew war 20, als er hier in ein städtisches Lager kam. Er starb mit 22 Jahren und wurde in Ohle begraben.