Quelle: ST von 30.12.2005
Zähl-Marathon: Wo habe
PLETTENBERG Elke Heerich bringt so leicht nichts aus der Ruhe. Sie hat
anscheinend Nerven aus Drahtseilen. Andere wären alleine schon bei der
Vorstellung, innerhalb eines Monats hunderte von Holzkugeln, Papier, Filz-
und Buntstifte zu zählen, der Verzweiflung nahe. Für die Besitzerin des
"Creativ-Ladens" führt an dieser Sisyphusarbeit kein Weg vorbei. Jedes Jahr
muss sie aufs Neue die vorgeschriebene Inventur vornehmen. Wer sich in dem
Geschäft an der Offenbornstraße schon einmal umgeschaut hat, dürfte das
Ausmaß erahnen. Wenn sich Elke Heerich und ihr Ehemann Günter nicht
kontinuierlich - vier Wochen lang mindestens acht Stunden pro Tag - durch
die Warengruppen kämpfen würden, sie würden wohl im Spätsommer noch zählen.
Über 8 000 Artikel befinden sich in den Regalen des etwa 100 Quadratmeter
großen Ladens. Die Inventur läuft bis Ende Januar, das Geschäft ist schon ab
dem 2. wieder geöffnet. "Kleinigkeiten erledigen wir während der
Geschäftszeiten." "Ich habe die Inventur noch nicht abgeschlossen, da graut
es mir schon vor der nächsten", erzählt Heerich und greift in eine Kiste
gefüllt mit hunderten von "Wackelaugen". Sie werden zur Verzierung von
Wattetieren verwendet. "Die Perlen sind besonders hartnäckig, weil sie sich
nach einer gewissen Zeit statisch aufladen."
Mittlerweile ist die
Geschäftsfrau in ihrem "Zähl-Marathon" bei den Farbtöpfen angelangt.
Erleichterung macht sich breit. "Das geht wesentlich einfacher als der ganze
Kleinkram", kämpft sich Heerich von oben nach unten, von links nach rechts,
vor. System ist oberstes Gebot. Ihr Gatte Günter Heerich macht unterdessen
den Laptop startklar und druckt Tabellen aus. Von der Strichliste aus
wandern die gezählten Mengen der jeweiligen Artikel, Einkauf- und
Verkaufspreis, in den Computer. Die Zahlen werden in das Programm Excel
eingegeben - ein erheblicher Arbeitsvorteil, denn die Software rechnet aus,
wieviel verkauft und welcher Betrag erwirtschaftet wurde.
Der Begriff
Inventur wird von dem lateinischen Wort invenire abgeleitet, was soviel
bedeutet wie "es vorfinden". Laut Lexikon ist die Inventur die körperliche
Bestandsaufnahme aller vorhandenen Vermögenswerte eines Unternehmens durch
Zählen, Messen, Wiegen und Schätzen. Jedes Unternehmen muss sie laut Gesetz
jährlich durchführen. Die Inventur ist für eine ordentliche Buchführung
Voraussetzung. Das Ergebnis ist das Inventar, eine Liste mit sämtlichen
Vermögensgegenständen, die in dem Unternehmen vorhanden sind. Selbst
Geschenk- und Dekobänder müssen von Heerich nachgemessen werden. "Nach der
Arbeit sehen wir, welche Produkte gut gelaufen sind oder welche wir im
nächsten Jahr besser aus dem Sortiment streichen". Zu Beginn des neuen
Jahres erhalte sie glücklicherweise tatkräftige Unterstützung von drei
Mitarbeiterinnen.
Während Heerich erzählt, klopft es plötzlich an die Tür.
Eine Kundin. Sie hat den Zettel "Wegen Inventur geschlossen" übersehen.
"Ach, kommen Sie ruhig rein", bittet Elke Heerich. Als die Dame eine Ahnung
von dem Aufwand bekommt, der zurzeit in dem Laden betrieben wird, schüttelt
sie den Kopf: "Für das Zählen so vieler Kleinigkeiten würden mir die Nerven
fehlen", gesteht sie ein. - Für Heerich geht es nach der Unterbrechung
weiter. Ungern mache sie - einmal angefangen - Pausen. Die Konzentration
lasse nach - und viel schlimmer. Sie verliere den Überblick: "Wo habe ich
bloß angefangen?" pw
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