Quelle: Festschrift "50 Jahre Erlöserkirche 1954 -2004", Hrsg.: Evang.
Kirchengemeinde Plettenberg, Pfarrbezirk Oestertal, 12.12.2004, 70 S.
Denkt man 100 Jahre in der Geschichte des Oestertales zurück, so findet man ein stilles, weltabschiedenes Tal vor, nur mit einigen wenigen Bauernhöfen und den dazugehörigen Kötterwohnungen besiedelt. Ein alter, ausgefahrener Hohlweg schlängelt sich durch das Tal, hin und wieder belebt durch ein Pferde- oder Ochsenfuhrwerk. Von den Erträgen der kargen Felder an den Berghängen nähren sich schlecht und recht die einfachen und bescheidenen Bewohner, deren Zahl damals wohl kaum an die 500 gereicht haben dürfte. An Hilfsmitteln standen den Bauern nur Pflug und Egge zur Verfügung, alle anderen Arbeiten mußten mühsam von Hand verrichtet werden. Eine Zeitung hat kaum oder nur selten ihren Weg in das stille Tal gefunden. Umso erklärlicher die abendlichen Unterhaltungen und Spukgeschichten während der „Lechtstunne“ im Schein des offenen Herdfeuers.
Diese Verhältnisse begannen sich aber grundlegend zu ändern, als der Sohn Friedrich des damaligen Kückelheimer Lehrers Friedr. Wilh. Brockhaus im Jahre 1864 in Wiesenthal und 10 Jahre später Friedrichs Bruder Julius in Oesterau den Grundstein zu einer langsam aber stetig aufblühenden Industrie im Oestertale legten, aus der die Firmen Ernst Brockhaus & Co. und Paul Brockhaus sich entwickelten, die sich später zur Firma Brockhaus Söhne zusammenschlossen.
Im Jahre 1892 wurde dann noch die frühere Hammerschmidt’sche Papiermühle in Himmelmert von der Firma Franz Mayer erworben und zu einer Gesenkschmiede umgebaut. Durch die stetige Weiterentwicklung der Werke wurde der Zuzug weiterer Arbeitskräfte notwendig, Handwerker der verschiedenen Berufe kamen ins Tal, und es entwickelte sich bald ein reges Leben und Treiben. Die in den Werken vorhandenen Wasserräder reichten schon längst nicht mehr für die Hämmer und Maschinen, Dampfmaschinen und Lokomobilen mußten zur Krafterzeugung herangezogen werden. Um aber die vorhandene Wasserkraft der Ebbecke bezw. Oester nicht ungenutzt zu lassen und andererseits Hochwassergefahren abzuwenden, entstand schon um die Jahrhundertwende der Plan zum Bau einer Talsperre im oberen Oestertal. Nach langwierigen Vorarbeiten konnte 1903 mit dem Bau der Sperre begonnen werden. Ein Heer von Fremdarbeitern, Italiener, Kroaten und Slowenen, bevölkerte für einige Jahre das Tal, um dieses gewaltige Bauwerk zu vollenden. Im Jahre 1907 war die Talsperre fertig und konnte ihrer Bestimmung übergeben werden. Der Bau hatte 1,8 Millionen Goldmark verschlungen, dafür war ein Stauinhalt von 3,1 Millionen Kubikmetern ermöglicht worden, der nur für die Turbinen des untenliegenden Elektrizitätswerkes und der Betriebe zur Verfügung stand.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Industrie mußten natürlich auch andere Dinge Schritt halten. So war bereits in den Jahren 1866 – 1873 die Straße verbessert worden und im Jahre 1903 baute die Plettenberger Straßenbahn die Kleinbahnstrecke ins Oestertal aus. Inzwischen hatte das Oestertal ein völlig verändertes Gesicht bekommen, die Zahl der vorhandenen Häuser und deren Bewohner war stark angewachsen, die Absatzmöglichkeiten der Bauernhöfe hatten sich weitgehend verbessert, so daß ein allgemeiner bescheidener Wohlstand zu verzeichnen war. Bereits in den neunziger Jahren war die Schule in Kückelheim den Anforderungen nicht mehr gewachsen, sie wurde geschlossen und dafür in Lettmecke und Himmelmert je ein neuer Schulbau erstellt. Auch die Post trug den veränderten Verhältnissen Rechnung und errichtete im Jahre 1894 eine Postagentur im Oestertal, täglich einmal und später täglich zweimal kam ein Postwagen von Plettenberg und vermittelte den Postanschluß für In- und Ausland. Auch das kulturelle Leben erhielt durch die Gründung verschiedener Vereine guten Auftrieb.
Das friedliche Leben im Tal wurde mit dem Ausbruch des Weltkrieges 1914 rauh unterbrochen. Viele Männer mußten zu den Fahnen eilen, und auch das Oestertal wurde von dem tiefernsten Beitrag nicht verschont, eine Anzahl der Einberufenen starb den Tod fürs Vaterland, andere wieder hatten unter den mehr oder weniger schweren Verwundungen zu leiden. Nach Beendigung des Krieges mit all seinen Begleit- und Folgeerscheinungen kam das wirtschaftliche Leben im Tal bald wieder in Gang, aber nach anfänglicher Scheinblüte setzte nach und nach eine rückläufige Tendenz ein, die in den 30er Jahren zu einer großen Arbeitslosigkeit führte, verbunden mit viel Sorge und Elend. Um Haaresbreite wäre die hauptsächliche Industrie des Tales vollkommen zum Erliegen gekommen, zum Glück kam es aber auf Grund von langwierigen Verhandlungen noch zu einer Wandlung, und langsam lief alles wieder an. Der 1939 erneut ausbrechende Weltbrand legte auch dem Oestertal wieder große Opfer auf. Die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre scheinen nun überwunden, fleißig pochen wieder die Hämmer, arbeiten die Maschinen und die daran beschäftigten Menschen, schafft wieder der Bauer auf seinem Feld, der Handwerker in seiner Werkstatt, alle erfüllt von dem sehnlichen Wunsch, in Frieden und Eintracht wirken und schaffen zu können zum Segen für unsere Heimat, unser Oestertal.
Das Oestertal zwischen Weltkrieg und Jahrtausendwende
Der zweite Weltkrieg hinterließ wie auch der erste seine Spuren in vielen Familien des Oestertales. Manche Väter oder Söhne kehrten nicht mehr zurück oder sie warteten oft Jahre auf das Ende ihrer Gefangenschaft. Obwohl im Oestertal auch Bomben fielen und ein größerer Artillerie - Beschuss hingenommen werden musste, blieben die Dörfer, die Bauernhöfe und Fabriken weitgehend verschont.
Während in Deutschland viele große Städte in Schutt und Asche lagen, brauchte hier kaum jemand aus dem Nichts eine neue Bleibe für sich oder seine Verwandten zu schaffen. Man konnte weiter arbeiten. Nebenbei wendete man wie auch in den letzten Kriegsjahren durch das ländliche Umfeld begünstigt viel Energie auf, um durch Eigenanbau seine Familie zu versorgen und darüber –hinaus die der bombengeschädigten Mitbewohner, der sogenannten Evakuierten, aus den zerstörten Städten des Ruhrgebietes. Außerdem waren bald auch viele Flüchtlingsfamilien unterzubringen und zu versorgen.
Die Währungsreform von 1948 versetzte jeden Bürger in die schwierige Lage, mit 40 DM pro Kopf einen Neuanfang zu beginnen.
Unterstützt durch den Marshall – Plan, der vom Jahr 1948 an eine willkommene Wirtschaftshilfe der Amerikaner für die von den Alliierten besetzten Zonen darstellte, begann der beispiellose Wiederaufbau im Lande.
Im Oestertal expandierte die Industrie und arbeitete bald auf Hochtouren.
Von 1949 an, dem Jahr der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, entwickelte sich unter Adenauer und Erhard eine soziale Marktwirtschaft, die ein bis dahin nicht gekanntes Wirtschaftswunder hervorbrachte, das auch in unser Tal hineinwirkte.
Straßen wurden erweitert oder neu gebaut. Der Personenverkehr wie auch der Güterverkehr verlagerten sich nach und nach von der Schiene auf die Straße.
1961 fuhr die letzte Kleinbahn in’s Oestertal.
Am 12. Dezember 1954 wurde in der Mitte des Oestertales die Erlöserkirche eingeweiht.
Ende der Fünfziger Jahre setzte in den landwirtschaftlichen Familienbetrieben des Oestertals eine allmähliche Mechanisierung ein und gleichzeitig eine Wandlung von der vielseitigen Bewirtschaftung ( Anbau von Getreide, Kartoffeln, Rüben und Erzeugung von Milch und Fleisch ) zur einseitigen Grünlandwirtschaft mit ausschließlicher Milch- und Fleischproduktion.
Freiwerdende Familienmitglieder verdienten ihren Lebensunterhalt in der nahe gelegenen Industrie. Als in den Sechziger und Siebziger Jahren die kleinen Familienbetriebe keinen Lebensstandard mehr erwirtschaften konnten, der dem allgemeinen Wohlstand entsprach, kam es zum „Höfesterben“. Die Hofnachfolger gaben auf und fanden leicht einen Arbeitsplatz in anderen Berufen, denn Arbeitskräfte fehlten besonders in der Industrie.
Viele Plettenberger Firmen orientierten sich in den ersten Nachkriegsjahren sehr stark am Bedarf der sich neu entwickelnden Autoindustrie, der Eisenbahn und des Bergbaus.
Aber auch für die anderen Branchen brachten die Sechziger und Siebziger Jahre gute Auftragslagen und Vollbeschäftigung. Es wurden Arbeitkräfte aus der Türkei, aus Italien und Griechenland angeworben.
1965 wurde in Lettmecke der Bau der Bonifatius-Kirche vollendet.
Nachdem sich die Anzahl der Katholiken im Tal nach Kriegsende durch die vielen Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stark vergrößert hatte, erhielt auch deren Gemeinde ihr eigenes Gotteshaus.
Bei vielen Menschen entstand der Wunsch, sich eigenen Wohnraum zu
schaffen. So wurden nach und nach Neubaugebiete im unteren Bereich an den Kämpen, in der Ohlwiese, am Sonnenhang und in der Immecke erschlossen. Zur Zeit entstehen weitere Baugebiete in Himmelmert und im oberen Bereich an den Kämpen.
Die Anzahl der Talbewohner hat inzwischen erheblich zugenommen und ist aufgrund der nahen Arbeitsplätze und der guten Wohnlage dabei, weiter zu steigen.
In den Siebziger Jahren begann eine neue Entwicklung im Schulbereich.
1968 / 69 wurde zunächst die einklassige Volksschule in Himmelmert geschlossen. Die Himmelmerter Schüler der Klassen 1 – 8 besuchten seitdem zusammen mit allen Volksschülern des unteren Oestertals die alte mehrklassige Volksschule in Lettmecke. Als schon bald in Plettenberg die Zeppelinschule Hauptschule wurde, die auch die Schüler der Klassen 5 – 8 aus dem Oestertal aufnahm, arbeitete die alte Volksschule in Lettmecke bis zur Fertigstellung der neuen Grundschule in Oesterau im Jahre 1975 als provisorische Grundschule weiter.
Aus der Volksschule in Himmelmer entstand unter der Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Plettenberg ein Kindergarten für den oberen Bereich des Oestertales. Seit 1996 ist er eine städtische Einrichtung.
Das Schulgebäude in der Lettmecke, in dem bis zur Einweihung der Erlöserkirche im Jahr 1954 ein Gottesdienstraum eingerichtet war, wurde danach der Freiwiligen Feuerwehr Oestertal zur Verfügung gestellt.Neben der neuen Grundschule in Lettmecke entstand ein zweiter städtischer Kindergarten für das untere Oestertal. Schulbusse übernahmen den Schülertransport nach Lettmecke und wie schon Jahre zuvor zu den weiterführenden Schulen.
In Oesterau an der Ohlwiese, in der Immecke und in Kückelheim unterhält die Stadt Plettenberg Kinderspielplätze. In Himmelmert ist z. Zt. einer im Bau.
Im Jahre 1979 wird die neue Oesterhalle eingeweiht. Seitdem steht den Talbewohnern wieder eine Gemeinschaftshalle für das Vereinsleben und für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung.
In den Achtziger Jahren kam es zur Verbesserung der Verkehrsanbindung zur Autobahn A 45 bei Lüdenscheid.
Ende der Neunziger Jahre wurde auf der ehemaligen Trasse der Kleinbahn ein Radweg ausgebaut, der das Oestertal mit dem übrigen Stadtgebiet verbindet.
Eine Anzahl verschiedener Einrichtungen der Evangelischen und Katholischen Kirche bietet den Menschen sowohl erzieherische wie auch seelsorgerliche Betreuung. Zehn Vereine und Verbände leisten durch ihr Wirken einen wichtigen Beitrag kultureller, sportlicher und versorgungstechnischer Art, zu einem Leben, das den Bürgern im Oestertal ein hohes Maß von Geborgenheit bietet. |